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Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Zweites Quartal.

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Gladstones Programm und Erfolge.

sprvchen, das versuchte er gegen das augenscheinliche Interesse Englands und
gegen den ebenso augenscheinlichen Willen großer festländischer Mächte als echter
Doctrinär auszuführen. Was er damit erreichte, möge ein kurzer Rückblick auf
die Entwicklung dieser Velleitnten zeigen. Die Moral davon wird sein, daß der
Einfluß Englands auf die europäischen Dinge seit dem Rücktritte Beaconsfields
in falscher Richtung verwendet worden ist, und daß er sich infolge dessen wesent¬
lich vermindert hat.

Der Beginn dieser Verminderung datirt von dem Tage an, wo Gladstone
1876 die von den Tscherkessen und Baschibvznks des Sultans in Bulgarien ver¬
übten Greuelthaten für seine Politik ausbeutete. Deal was er gegen die Türken
sagte, war auch, da diese Englands beste und sicherste Verbündete in den Mittel¬
meerländern waren, gegen England gesagt. Die Pforte war in dem überlieferten
politischen Systeme der britischen auswärtigen Action ein Factor ersten Ranges.
Gladstone mißachtete diese Tradition. Ihm stand die Freiheit und das Wohl¬
ergehen der Serben lind Bulgaren, dieser Verbündete" des russischen Nebenbuhlers
Englands, höher als sie. Beaevnöfield rettete vom Einflüsse des letztem auf
die Geschicke der östlichen Mittelmeerländer, was sich nach dem Kriege von 1877
retten ließ, und er hätte, wenn er am Ruder geblieben wäre, im Anschlusse an
das deutsch-österreichische Bündniß den 1878 hergestellten Stand der Dinge
erhalten helfen. Aber Gladstones Agitation trieb die Conservativen aus dem
Amte, und um sollte das Programm, das er in Midlvthian skizzirt hatte, seiner
Verwirklichung entgegengeführt werden. Die Anlehnung an Deutschland und
Oesterreich-Ungarn wurde verworfen, die orientalische Frage durch ein Rund¬
schreiben zu neuem Leben erweckt, und ein paar Wochen später war die englische
Politik vollständig auf den Kopf gestellt. Man wußte auswärts kaum mehr,
was man von ihr denken sollte, jedenfalls war sie unberechenbar und unzuver¬
lässig geworden. Niemand wurde dadurch gewonnen, Deutschland und Oester¬
reich-Ungarn sahen sich von ihr geschieden, Rußland konnte nicht recht treuen,
Frankreich eben so wenig, es wandte sich im stillen mehr und mehr von dem
"nsichern Freunde ab, und in demselben Maße begann es Vertrauen zu fassen
zu Mächten, die ihm bisher als Feinde erschienen waren.

Etwas mehr als ein Jahr ist vergangen, seit Gladstone unter dem Vor-
wande, eine vollständige und unverzügliche Verwirklichung des Berliner Vertrags
zu bezwecken, seine Manöver begann gegen das, was sein Amtsvorgänger im
Verein mit den Vertretern der übrigen westlichen Mächte im europäischen Süd¬
osten geschaffen. Die montenegrinische und die griechische Grenzfragc sowie die
Frage in betreff der Reformen in Armenien sollten mit einem Schlage gelöst
werden, wenn nicht mit der Pforte, dann gegen sie, wenn nicht ans dem Boden


Gladstones Programm und Erfolge.

sprvchen, das versuchte er gegen das augenscheinliche Interesse Englands und
gegen den ebenso augenscheinlichen Willen großer festländischer Mächte als echter
Doctrinär auszuführen. Was er damit erreichte, möge ein kurzer Rückblick auf
die Entwicklung dieser Velleitnten zeigen. Die Moral davon wird sein, daß der
Einfluß Englands auf die europäischen Dinge seit dem Rücktritte Beaconsfields
in falscher Richtung verwendet worden ist, und daß er sich infolge dessen wesent¬
lich vermindert hat.

Der Beginn dieser Verminderung datirt von dem Tage an, wo Gladstone
1876 die von den Tscherkessen und Baschibvznks des Sultans in Bulgarien ver¬
übten Greuelthaten für seine Politik ausbeutete. Deal was er gegen die Türken
sagte, war auch, da diese Englands beste und sicherste Verbündete in den Mittel¬
meerländern waren, gegen England gesagt. Die Pforte war in dem überlieferten
politischen Systeme der britischen auswärtigen Action ein Factor ersten Ranges.
Gladstone mißachtete diese Tradition. Ihm stand die Freiheit und das Wohl¬
ergehen der Serben lind Bulgaren, dieser Verbündete» des russischen Nebenbuhlers
Englands, höher als sie. Beaevnöfield rettete vom Einflüsse des letztem auf
die Geschicke der östlichen Mittelmeerländer, was sich nach dem Kriege von 1877
retten ließ, und er hätte, wenn er am Ruder geblieben wäre, im Anschlusse an
das deutsch-österreichische Bündniß den 1878 hergestellten Stand der Dinge
erhalten helfen. Aber Gladstones Agitation trieb die Conservativen aus dem
Amte, und um sollte das Programm, das er in Midlvthian skizzirt hatte, seiner
Verwirklichung entgegengeführt werden. Die Anlehnung an Deutschland und
Oesterreich-Ungarn wurde verworfen, die orientalische Frage durch ein Rund¬
schreiben zu neuem Leben erweckt, und ein paar Wochen später war die englische
Politik vollständig auf den Kopf gestellt. Man wußte auswärts kaum mehr,
was man von ihr denken sollte, jedenfalls war sie unberechenbar und unzuver¬
lässig geworden. Niemand wurde dadurch gewonnen, Deutschland und Oester¬
reich-Ungarn sahen sich von ihr geschieden, Rußland konnte nicht recht treuen,
Frankreich eben so wenig, es wandte sich im stillen mehr und mehr von dem
»nsichern Freunde ab, und in demselben Maße begann es Vertrauen zu fassen
zu Mächten, die ihm bisher als Feinde erschienen waren.

Etwas mehr als ein Jahr ist vergangen, seit Gladstone unter dem Vor-
wande, eine vollständige und unverzügliche Verwirklichung des Berliner Vertrags
zu bezwecken, seine Manöver begann gegen das, was sein Amtsvorgänger im
Verein mit den Vertretern der übrigen westlichen Mächte im europäischen Süd¬
osten geschaffen. Die montenegrinische und die griechische Grenzfragc sowie die
Frage in betreff der Reformen in Armenien sollten mit einem Schlage gelöst
werden, wenn nicht mit der Pforte, dann gegen sie, wenn nicht ans dem Boden


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[0394] Gladstones Programm und Erfolge. sprvchen, das versuchte er gegen das augenscheinliche Interesse Englands und gegen den ebenso augenscheinlichen Willen großer festländischer Mächte als echter Doctrinär auszuführen. Was er damit erreichte, möge ein kurzer Rückblick auf die Entwicklung dieser Velleitnten zeigen. Die Moral davon wird sein, daß der Einfluß Englands auf die europäischen Dinge seit dem Rücktritte Beaconsfields in falscher Richtung verwendet worden ist, und daß er sich infolge dessen wesent¬ lich vermindert hat. Der Beginn dieser Verminderung datirt von dem Tage an, wo Gladstone 1876 die von den Tscherkessen und Baschibvznks des Sultans in Bulgarien ver¬ übten Greuelthaten für seine Politik ausbeutete. Deal was er gegen die Türken sagte, war auch, da diese Englands beste und sicherste Verbündete in den Mittel¬ meerländern waren, gegen England gesagt. Die Pforte war in dem überlieferten politischen Systeme der britischen auswärtigen Action ein Factor ersten Ranges. Gladstone mißachtete diese Tradition. Ihm stand die Freiheit und das Wohl¬ ergehen der Serben lind Bulgaren, dieser Verbündete» des russischen Nebenbuhlers Englands, höher als sie. Beaevnöfield rettete vom Einflüsse des letztem auf die Geschicke der östlichen Mittelmeerländer, was sich nach dem Kriege von 1877 retten ließ, und er hätte, wenn er am Ruder geblieben wäre, im Anschlusse an das deutsch-österreichische Bündniß den 1878 hergestellten Stand der Dinge erhalten helfen. Aber Gladstones Agitation trieb die Conservativen aus dem Amte, und um sollte das Programm, das er in Midlvthian skizzirt hatte, seiner Verwirklichung entgegengeführt werden. Die Anlehnung an Deutschland und Oesterreich-Ungarn wurde verworfen, die orientalische Frage durch ein Rund¬ schreiben zu neuem Leben erweckt, und ein paar Wochen später war die englische Politik vollständig auf den Kopf gestellt. Man wußte auswärts kaum mehr, was man von ihr denken sollte, jedenfalls war sie unberechenbar und unzuver¬ lässig geworden. Niemand wurde dadurch gewonnen, Deutschland und Oester¬ reich-Ungarn sahen sich von ihr geschieden, Rußland konnte nicht recht treuen, Frankreich eben so wenig, es wandte sich im stillen mehr und mehr von dem »nsichern Freunde ab, und in demselben Maße begann es Vertrauen zu fassen zu Mächten, die ihm bisher als Feinde erschienen waren. Etwas mehr als ein Jahr ist vergangen, seit Gladstone unter dem Vor- wande, eine vollständige und unverzügliche Verwirklichung des Berliner Vertrags zu bezwecken, seine Manöver begann gegen das, was sein Amtsvorgänger im Verein mit den Vertretern der übrigen westlichen Mächte im europäischen Süd¬ osten geschaffen. Die montenegrinische und die griechische Grenzfragc sowie die Frage in betreff der Reformen in Armenien sollten mit einem Schlage gelöst werden, wenn nicht mit der Pforte, dann gegen sie, wenn nicht ans dem Boden

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157699/394>, abgerufen am 23.07.2024.