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Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Zweites Quartal.

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Die Krisis in Bulgarien.

ums bezeichnet, wäre hier mindestens für die ersten zwanzig bis dreißig Jahre
viel besser am Orte gewesen.

Und so ist es denn auch gekommen. Die Aufpfropfuug des Constitutiona-
lismus auf den wilden Stamm Bulgariens hat keine guten Früchte getragen.
Noch keine zwei Jahre sind vergangen, und der Fürst sieht sich rathlos, sieht
sich außer Stande, in der bisherigen Weise fvrtzuregieren. Alles ist in Ver¬
wirrung, nichts will mehr vorwärts, das Land schwebt politisch zwischen Leben
und Sterben, und am 9. Mai führte der Fürst den vermuthlich bei ihn: schon
lange reifenden Entschluß aus, abzudanken und das Volk, mit dem sich nichts
anfangen ließ, seinem Schicksal zu überlassen. Eine Proelamcition erging, in
welcher er diesen Entschluß in den deutlichsten Ausdrücken kundgab. Diese
Erklärung scheint gewirkt und vielen die Augen über die Zustände geöffnet
zu haben, bei denen man mit der liberalen Verfassung, den parlamentarischen
Experimenten und der freien Presse angelangt ist. Das Volk will den Fürsten
nicht gehen lassen. Am 10. fand, wie der Telegraph meldete, eine gro߬
artige Demonstration vor dessen Konak statt. Die versammelte Menge brachte
ihm begeisterte Hochrufe aus. Er zeigte sich der Volksmasse dreimal und
dankte für die ihm dargebrachten sympathischen Kundgebungen. Der Metro¬
polit bat ihn, den Gedanken eines Rücktritts aufzugeben und Bulgarien nicht
zu verlassen u. s. w.

Ob der Fürst auf diese Bitte eingegangen ist, wird in dem Telegramm
nicht gesagt. Möglich, daß er sich zum Bleiben bestimmen läßt, möglich anch,
daß er bei seinem Vorsätze beharrt. Im erstem Falle müßte er größere Sicher¬
heiten vor politischen Thorheiten der Bulgaren fordern, als sie die Verfassung
gewährt, es müßte also eine Reaction stattfinden und vielleicht eine Art Dictatur .
errichtet werden, die rasch mit den Folgen jener Thorheiten aufräumte und die
Verfassung so gestaltete, daß man mit ihr regieren kann.

Mit den bloßen Shmpathiebezeugungen des Volkes wird schwerlich etwas ge¬
bessert werden können. Daß die Talente und die Willenskraft des Fürsten allein
nicht ausreichen, um die Entwicklung der bulgarischen Zustände endlich in gedeiheu-
verheißende Bahnen zu lenken, scheint nach den bisherigen Erfahrungen ebenfalls
ausgemacht. Man darf ihm das Zeugniß geben, daß er seine Stellung in Sofia
nicht als bloße Befriedigung seines Ehrgeizes, nicht als Sinecure aufgefaßt hat.
Er hat sichs im Gegentheil sauer werden lassen damit, er hat fleißig gearbeitet
und nach Kräften den auflösenden Tendenzen der Radicalen und der andern
Dvetrinärc Widerstand geleistet. Aber die Schwierigkeiten, die er zu über¬
winden hatte, waren schon zu Anfang seiner Regierung groß und wuchsen im
weitern Verlaufe der letztern so an, daß nur mit einer Abänderung der Regie-


Die Krisis in Bulgarien.

ums bezeichnet, wäre hier mindestens für die ersten zwanzig bis dreißig Jahre
viel besser am Orte gewesen.

Und so ist es denn auch gekommen. Die Aufpfropfuug des Constitutiona-
lismus auf den wilden Stamm Bulgariens hat keine guten Früchte getragen.
Noch keine zwei Jahre sind vergangen, und der Fürst sieht sich rathlos, sieht
sich außer Stande, in der bisherigen Weise fvrtzuregieren. Alles ist in Ver¬
wirrung, nichts will mehr vorwärts, das Land schwebt politisch zwischen Leben
und Sterben, und am 9. Mai führte der Fürst den vermuthlich bei ihn: schon
lange reifenden Entschluß aus, abzudanken und das Volk, mit dem sich nichts
anfangen ließ, seinem Schicksal zu überlassen. Eine Proelamcition erging, in
welcher er diesen Entschluß in den deutlichsten Ausdrücken kundgab. Diese
Erklärung scheint gewirkt und vielen die Augen über die Zustände geöffnet
zu haben, bei denen man mit der liberalen Verfassung, den parlamentarischen
Experimenten und der freien Presse angelangt ist. Das Volk will den Fürsten
nicht gehen lassen. Am 10. fand, wie der Telegraph meldete, eine gro߬
artige Demonstration vor dessen Konak statt. Die versammelte Menge brachte
ihm begeisterte Hochrufe aus. Er zeigte sich der Volksmasse dreimal und
dankte für die ihm dargebrachten sympathischen Kundgebungen. Der Metro¬
polit bat ihn, den Gedanken eines Rücktritts aufzugeben und Bulgarien nicht
zu verlassen u. s. w.

Ob der Fürst auf diese Bitte eingegangen ist, wird in dem Telegramm
nicht gesagt. Möglich, daß er sich zum Bleiben bestimmen läßt, möglich anch,
daß er bei seinem Vorsätze beharrt. Im erstem Falle müßte er größere Sicher¬
heiten vor politischen Thorheiten der Bulgaren fordern, als sie die Verfassung
gewährt, es müßte also eine Reaction stattfinden und vielleicht eine Art Dictatur .
errichtet werden, die rasch mit den Folgen jener Thorheiten aufräumte und die
Verfassung so gestaltete, daß man mit ihr regieren kann.

Mit den bloßen Shmpathiebezeugungen des Volkes wird schwerlich etwas ge¬
bessert werden können. Daß die Talente und die Willenskraft des Fürsten allein
nicht ausreichen, um die Entwicklung der bulgarischen Zustände endlich in gedeiheu-
verheißende Bahnen zu lenken, scheint nach den bisherigen Erfahrungen ebenfalls
ausgemacht. Man darf ihm das Zeugniß geben, daß er seine Stellung in Sofia
nicht als bloße Befriedigung seines Ehrgeizes, nicht als Sinecure aufgefaßt hat.
Er hat sichs im Gegentheil sauer werden lassen damit, er hat fleißig gearbeitet
und nach Kräften den auflösenden Tendenzen der Radicalen und der andern
Dvetrinärc Widerstand geleistet. Aber die Schwierigkeiten, die er zu über¬
winden hatte, waren schon zu Anfang seiner Regierung groß und wuchsen im
weitern Verlaufe der letztern so an, daß nur mit einer Abänderung der Regie-


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[0344] Die Krisis in Bulgarien. ums bezeichnet, wäre hier mindestens für die ersten zwanzig bis dreißig Jahre viel besser am Orte gewesen. Und so ist es denn auch gekommen. Die Aufpfropfuug des Constitutiona- lismus auf den wilden Stamm Bulgariens hat keine guten Früchte getragen. Noch keine zwei Jahre sind vergangen, und der Fürst sieht sich rathlos, sieht sich außer Stande, in der bisherigen Weise fvrtzuregieren. Alles ist in Ver¬ wirrung, nichts will mehr vorwärts, das Land schwebt politisch zwischen Leben und Sterben, und am 9. Mai führte der Fürst den vermuthlich bei ihn: schon lange reifenden Entschluß aus, abzudanken und das Volk, mit dem sich nichts anfangen ließ, seinem Schicksal zu überlassen. Eine Proelamcition erging, in welcher er diesen Entschluß in den deutlichsten Ausdrücken kundgab. Diese Erklärung scheint gewirkt und vielen die Augen über die Zustände geöffnet zu haben, bei denen man mit der liberalen Verfassung, den parlamentarischen Experimenten und der freien Presse angelangt ist. Das Volk will den Fürsten nicht gehen lassen. Am 10. fand, wie der Telegraph meldete, eine gro߬ artige Demonstration vor dessen Konak statt. Die versammelte Menge brachte ihm begeisterte Hochrufe aus. Er zeigte sich der Volksmasse dreimal und dankte für die ihm dargebrachten sympathischen Kundgebungen. Der Metro¬ polit bat ihn, den Gedanken eines Rücktritts aufzugeben und Bulgarien nicht zu verlassen u. s. w. Ob der Fürst auf diese Bitte eingegangen ist, wird in dem Telegramm nicht gesagt. Möglich, daß er sich zum Bleiben bestimmen läßt, möglich anch, daß er bei seinem Vorsätze beharrt. Im erstem Falle müßte er größere Sicher¬ heiten vor politischen Thorheiten der Bulgaren fordern, als sie die Verfassung gewährt, es müßte also eine Reaction stattfinden und vielleicht eine Art Dictatur . errichtet werden, die rasch mit den Folgen jener Thorheiten aufräumte und die Verfassung so gestaltete, daß man mit ihr regieren kann. Mit den bloßen Shmpathiebezeugungen des Volkes wird schwerlich etwas ge¬ bessert werden können. Daß die Talente und die Willenskraft des Fürsten allein nicht ausreichen, um die Entwicklung der bulgarischen Zustände endlich in gedeiheu- verheißende Bahnen zu lenken, scheint nach den bisherigen Erfahrungen ebenfalls ausgemacht. Man darf ihm das Zeugniß geben, daß er seine Stellung in Sofia nicht als bloße Befriedigung seines Ehrgeizes, nicht als Sinecure aufgefaßt hat. Er hat sichs im Gegentheil sauer werden lassen damit, er hat fleißig gearbeitet und nach Kräften den auflösenden Tendenzen der Radicalen und der andern Dvetrinärc Widerstand geleistet. Aber die Schwierigkeiten, die er zu über¬ winden hatte, waren schon zu Anfang seiner Regierung groß und wuchsen im weitern Verlaufe der letztern so an, daß nur mit einer Abänderung der Regie-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157699/344>, abgerufen am 25.08.2024.