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Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Zweites Quartal.

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Rußland >ab die Reform.

als Aufgaben der Reformarbcit vorzüglich Hebung der Finanzkraft des Landes, Sorge
für bessern Anbau des Bodens und geschicktere Ausbeutung seiner noch ungehobnen
Schätze, größre Nutzbarmachung der Eisenbahnen und Canüle, Erlösung von der
Branntweinpest, religiöse, nicht bloß kirchliche Erziehung der Massen und wahrhafte
Volksbildung, die Pflichtgefühl einpräge. Das allein könne den Nihilismus er-
tödten.

Andre Zcitungspolitiker waren wenigstens der Meinung, daß eine Auswahl
ans den Medicamenten der liberalen Apotheke dem Zustande des Kranken entsprechen
und Besserung herbeiführen werde, eine Ansicht, in der sie dadurch bestärkt wurden,
daß in Rußland eine Partei, an deren Spitze sie den bekannten Loris Melikoff
stellten, ebenso dachte. Das russische Volk, so raisonnirten sie, ist keineswegs ganz
unreif für den Besitz der Freiheit, Es muß wie andre Nationen schrittweise der
Mündigkeit, der Fähigkeit zur Selbstverwaltung entgegengeführt werden. Dazu ist
aber noch nicht einmal ein Anfang vorhanden. Die gebildete Klasse der Russen
beansprucht für sich jenes Maß individueller Freiheit, jener Rechtssicherheit, für die
Person und das Eigenthum, für die Entfaltung ihrer intellectuellen und materiellen
Kräfte, deren sich im Westen auch der letzte Arbeiter erfreut. Ihr können die bis¬
herigen, für die großen halbcivilisirten Massen des Riesenstaates ausreichenden Ein¬
richtungen nicht genügen. Sie wollen erlöst sein von der Willkürherrschaft einer
eigenmächtigen und habsüchtigen Bureaukratie, wollen in freier Weise theilnehmen
an der Verwaltung, wollen eine genügende Controle über die Administration aus¬
üben, lauter Forderungen, welche in den Staaten des Westens verwirklicht wurden,
weil das ganze Volk sie gestellt hatte, während in Rußland diesem Verlangen der
Nachdruck der allgemeinen Ueberzeugung mangelt. An die Stelle dieses Nachdrucks
trat die Bedrohung der Verschwörer und die Ausführung der Bedrohung. Wenn
der Kaiser mit ernstem Willen ans Werk ginge, wenn er zunächst die Grund-
bedingungen der persönlichen Freiheit und Sicherheit, die Garantien des Hausrechts,
die Bürgschaften einer geregelten und ehrlichen Verwaltung schaffen wollte, dann
würden die verhängnißvollen Zustände Rußlands wahrscheinlich bald ein bessres
Aussehen gewinnen.

Wieder andre Blätter riethen wenigstens zur Einsetzung einer Controle durch
das Volk in finanziellen Angelegenheiten; denn tief eingewurzelt sei in Rußland
die Vorstellung, daß der Absolutismus in beispielloser Weise die Staatsgelder ver¬
schleudert, und daß ein corrnptcs Beamtenthum sich wie ein Blutegel an die Adern
des Volkes gesetzt habe. Alexander der Dritte sei fest entschlossen, dieser Verwaltnngs-
weise, deren unsaubres Gebahren bis über Minister und Generale heraufreiche, ein
Ende zu machen, dazu aber müsse er wohl oder übel an den Beistand des Volkes
appelliren. Gleichviel, ob er zur Beaufsichtigung der Staatsausgaben ein Parla¬
ment, oder einen gewählten "Anfsichtsrath" berufe, fest stehe, daß er der Bevölkerung
einen Antheil an der Regierung gewähren müsse, wenn er sein Reich vor dem
wirthschaftlichen Ruin bewahren wolle.


Rußland >ab die Reform.

als Aufgaben der Reformarbcit vorzüglich Hebung der Finanzkraft des Landes, Sorge
für bessern Anbau des Bodens und geschicktere Ausbeutung seiner noch ungehobnen
Schätze, größre Nutzbarmachung der Eisenbahnen und Canüle, Erlösung von der
Branntweinpest, religiöse, nicht bloß kirchliche Erziehung der Massen und wahrhafte
Volksbildung, die Pflichtgefühl einpräge. Das allein könne den Nihilismus er-
tödten.

Andre Zcitungspolitiker waren wenigstens der Meinung, daß eine Auswahl
ans den Medicamenten der liberalen Apotheke dem Zustande des Kranken entsprechen
und Besserung herbeiführen werde, eine Ansicht, in der sie dadurch bestärkt wurden,
daß in Rußland eine Partei, an deren Spitze sie den bekannten Loris Melikoff
stellten, ebenso dachte. Das russische Volk, so raisonnirten sie, ist keineswegs ganz
unreif für den Besitz der Freiheit, Es muß wie andre Nationen schrittweise der
Mündigkeit, der Fähigkeit zur Selbstverwaltung entgegengeführt werden. Dazu ist
aber noch nicht einmal ein Anfang vorhanden. Die gebildete Klasse der Russen
beansprucht für sich jenes Maß individueller Freiheit, jener Rechtssicherheit, für die
Person und das Eigenthum, für die Entfaltung ihrer intellectuellen und materiellen
Kräfte, deren sich im Westen auch der letzte Arbeiter erfreut. Ihr können die bis¬
herigen, für die großen halbcivilisirten Massen des Riesenstaates ausreichenden Ein¬
richtungen nicht genügen. Sie wollen erlöst sein von der Willkürherrschaft einer
eigenmächtigen und habsüchtigen Bureaukratie, wollen in freier Weise theilnehmen
an der Verwaltung, wollen eine genügende Controle über die Administration aus¬
üben, lauter Forderungen, welche in den Staaten des Westens verwirklicht wurden,
weil das ganze Volk sie gestellt hatte, während in Rußland diesem Verlangen der
Nachdruck der allgemeinen Ueberzeugung mangelt. An die Stelle dieses Nachdrucks
trat die Bedrohung der Verschwörer und die Ausführung der Bedrohung. Wenn
der Kaiser mit ernstem Willen ans Werk ginge, wenn er zunächst die Grund-
bedingungen der persönlichen Freiheit und Sicherheit, die Garantien des Hausrechts,
die Bürgschaften einer geregelten und ehrlichen Verwaltung schaffen wollte, dann
würden die verhängnißvollen Zustände Rußlands wahrscheinlich bald ein bessres
Aussehen gewinnen.

Wieder andre Blätter riethen wenigstens zur Einsetzung einer Controle durch
das Volk in finanziellen Angelegenheiten; denn tief eingewurzelt sei in Rußland
die Vorstellung, daß der Absolutismus in beispielloser Weise die Staatsgelder ver¬
schleudert, und daß ein corrnptcs Beamtenthum sich wie ein Blutegel an die Adern
des Volkes gesetzt habe. Alexander der Dritte sei fest entschlossen, dieser Verwaltnngs-
weise, deren unsaubres Gebahren bis über Minister und Generale heraufreiche, ein
Ende zu machen, dazu aber müsse er wohl oder übel an den Beistand des Volkes
appelliren. Gleichviel, ob er zur Beaufsichtigung der Staatsausgaben ein Parla¬
ment, oder einen gewählten „Anfsichtsrath" berufe, fest stehe, daß er der Bevölkerung
einen Antheil an der Regierung gewähren müsse, wenn er sein Reich vor dem
wirthschaftlichen Ruin bewahren wolle.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157699/302>, abgerufen am 23.07.2024.