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Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Zweites Quartal.

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Calderon.

über Calderon handelt, einer der gelungensten und inhaltsreichsten ist, wird von
jedem Kundigen bereitwillig eingeräumt werden.

Da indeß ungeachtet dieses gediegnen und reichhaltigen Materials die Werke
Calderons heutzutage weit entfernt sind die ihnen gebührende Beachtung zu ge¬
nießen, so wird eine Darstellung wie die folgende, deren Zweck es ist, in mög¬
lichster Gedrängtheit ein Bild von dem Schaffen des großen Dramatikers zu
entwerfen und die reichen Lohn darin finden würde, wenn es ihr gelänge, zu
eigner Lectüre seiner Schöpfungen anzuregen, kaum einer besondern Recht¬
fertigung bedürfen.

So wenig wie nur bei irgend einer dichterischen oder künstlerischen Persön¬
lichkeit ist es bei Calderon möglich, zu einem tiefern Verständniß, einer objectiven
Würdigung seiner Werke zu gelangen, ohne den Boden zu kennen, ans welchem
seine Kunst emporwuchs. Abgelöst aus dem historischen Zusammenhange würde
sein Bild manchen fremdartigen, unverständlichen Zug darbieten, würden seine
großartigen Eigenschaften wie seine Fehler in allzu greller Beleuchtung erscheinen.
Schacks hohes Verdienst ist es, an die Stelle jener enthusiastischen Bewunderung,
infolge deren man zu Beginn dieses Jahrhunderts Calderon als den Gipfelpunkt
der gestimmten spanischen Bühnendichtung von allen seinen Vorgängern -- die
man übrigens nur sehr ungenügend kannte -- durch eine unermeßliche Kluft
geschieden wähnte,^*) eine historische Betrachtungsweise gesetzt zu haben, bei welcher
Calderon als ein Glied in der großen Entwicklungskette erscheint und dadurch
nicht nur nichts von seinein Glänze einbüßt, sondern erst vollständig und in
seiner ganzen Bedeutung erkannt wird.

Als Calderon sich der einheimischen Bühne bemächtigte, fand er höchst an¬
sehnliche Leistungen und, was wohl zu beachten, eine in ihren wesentlichen
Elementen bereits aufs bestimmteste ausgeprägte dramatische Kunstübung vor,
die, aus der Nation selbst hervorgegangen und von ihrem Beifall getragen, ihre
Lebenskraft schon durch einen langen Zeitraum in einer Weise bewährt hatte,
daß sie jedem neuen Talente die Anlehnung an das hergebrachte System zur
Pflicht machte.

Versuchen wir es, die Stadien, die das spanische Drama vor Calderons
Auftreten durchlaufen, in Kürze vorzuführen.

Mit einziger Ausnahme der englischen läßt sich bei keiner dramatischen
Literatur der neuern Zeit von den Mysterien und Mirakelspielen des Mittel¬
alters an eine solche Continnitnt der Entwicklung beobachten wie bei der spanischen.




") Als vorzüglich geeignet zur Orientirung möge genannt sein das fleißige Werk von
Friedr. Will). Val. Schmidt! Die Schauspiele Calderons, dargestellt und erläutert, I8ü7.
-"") Vgl. z. B. Friedr. Schlegel, Geschichte der alte" und neuen Literatur. I, 122.
Grenzboten II. 1881. 29
Calderon.

über Calderon handelt, einer der gelungensten und inhaltsreichsten ist, wird von
jedem Kundigen bereitwillig eingeräumt werden.

Da indeß ungeachtet dieses gediegnen und reichhaltigen Materials die Werke
Calderons heutzutage weit entfernt sind die ihnen gebührende Beachtung zu ge¬
nießen, so wird eine Darstellung wie die folgende, deren Zweck es ist, in mög¬
lichster Gedrängtheit ein Bild von dem Schaffen des großen Dramatikers zu
entwerfen und die reichen Lohn darin finden würde, wenn es ihr gelänge, zu
eigner Lectüre seiner Schöpfungen anzuregen, kaum einer besondern Recht¬
fertigung bedürfen.

So wenig wie nur bei irgend einer dichterischen oder künstlerischen Persön¬
lichkeit ist es bei Calderon möglich, zu einem tiefern Verständniß, einer objectiven
Würdigung seiner Werke zu gelangen, ohne den Boden zu kennen, ans welchem
seine Kunst emporwuchs. Abgelöst aus dem historischen Zusammenhange würde
sein Bild manchen fremdartigen, unverständlichen Zug darbieten, würden seine
großartigen Eigenschaften wie seine Fehler in allzu greller Beleuchtung erscheinen.
Schacks hohes Verdienst ist es, an die Stelle jener enthusiastischen Bewunderung,
infolge deren man zu Beginn dieses Jahrhunderts Calderon als den Gipfelpunkt
der gestimmten spanischen Bühnendichtung von allen seinen Vorgängern — die
man übrigens nur sehr ungenügend kannte — durch eine unermeßliche Kluft
geschieden wähnte,^*) eine historische Betrachtungsweise gesetzt zu haben, bei welcher
Calderon als ein Glied in der großen Entwicklungskette erscheint und dadurch
nicht nur nichts von seinein Glänze einbüßt, sondern erst vollständig und in
seiner ganzen Bedeutung erkannt wird.

Als Calderon sich der einheimischen Bühne bemächtigte, fand er höchst an¬
sehnliche Leistungen und, was wohl zu beachten, eine in ihren wesentlichen
Elementen bereits aufs bestimmteste ausgeprägte dramatische Kunstübung vor,
die, aus der Nation selbst hervorgegangen und von ihrem Beifall getragen, ihre
Lebenskraft schon durch einen langen Zeitraum in einer Weise bewährt hatte,
daß sie jedem neuen Talente die Anlehnung an das hergebrachte System zur
Pflicht machte.

Versuchen wir es, die Stadien, die das spanische Drama vor Calderons
Auftreten durchlaufen, in Kürze vorzuführen.

Mit einziger Ausnahme der englischen läßt sich bei keiner dramatischen
Literatur der neuern Zeit von den Mysterien und Mirakelspielen des Mittel¬
alters an eine solche Continnitnt der Entwicklung beobachten wie bei der spanischen.




») Als vorzüglich geeignet zur Orientirung möge genannt sein das fleißige Werk von
Friedr. Will). Val. Schmidt! Die Schauspiele Calderons, dargestellt und erläutert, I8ü7.
-»») Vgl. z. B. Friedr. Schlegel, Geschichte der alte» und neuen Literatur. I, 122.
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[0229] Calderon. über Calderon handelt, einer der gelungensten und inhaltsreichsten ist, wird von jedem Kundigen bereitwillig eingeräumt werden. Da indeß ungeachtet dieses gediegnen und reichhaltigen Materials die Werke Calderons heutzutage weit entfernt sind die ihnen gebührende Beachtung zu ge¬ nießen, so wird eine Darstellung wie die folgende, deren Zweck es ist, in mög¬ lichster Gedrängtheit ein Bild von dem Schaffen des großen Dramatikers zu entwerfen und die reichen Lohn darin finden würde, wenn es ihr gelänge, zu eigner Lectüre seiner Schöpfungen anzuregen, kaum einer besondern Recht¬ fertigung bedürfen. So wenig wie nur bei irgend einer dichterischen oder künstlerischen Persön¬ lichkeit ist es bei Calderon möglich, zu einem tiefern Verständniß, einer objectiven Würdigung seiner Werke zu gelangen, ohne den Boden zu kennen, ans welchem seine Kunst emporwuchs. Abgelöst aus dem historischen Zusammenhange würde sein Bild manchen fremdartigen, unverständlichen Zug darbieten, würden seine großartigen Eigenschaften wie seine Fehler in allzu greller Beleuchtung erscheinen. Schacks hohes Verdienst ist es, an die Stelle jener enthusiastischen Bewunderung, infolge deren man zu Beginn dieses Jahrhunderts Calderon als den Gipfelpunkt der gestimmten spanischen Bühnendichtung von allen seinen Vorgängern — die man übrigens nur sehr ungenügend kannte — durch eine unermeßliche Kluft geschieden wähnte,^*) eine historische Betrachtungsweise gesetzt zu haben, bei welcher Calderon als ein Glied in der großen Entwicklungskette erscheint und dadurch nicht nur nichts von seinein Glänze einbüßt, sondern erst vollständig und in seiner ganzen Bedeutung erkannt wird. Als Calderon sich der einheimischen Bühne bemächtigte, fand er höchst an¬ sehnliche Leistungen und, was wohl zu beachten, eine in ihren wesentlichen Elementen bereits aufs bestimmteste ausgeprägte dramatische Kunstübung vor, die, aus der Nation selbst hervorgegangen und von ihrem Beifall getragen, ihre Lebenskraft schon durch einen langen Zeitraum in einer Weise bewährt hatte, daß sie jedem neuen Talente die Anlehnung an das hergebrachte System zur Pflicht machte. Versuchen wir es, die Stadien, die das spanische Drama vor Calderons Auftreten durchlaufen, in Kürze vorzuführen. Mit einziger Ausnahme der englischen läßt sich bei keiner dramatischen Literatur der neuern Zeit von den Mysterien und Mirakelspielen des Mittel¬ alters an eine solche Continnitnt der Entwicklung beobachten wie bei der spanischen. ») Als vorzüglich geeignet zur Orientirung möge genannt sein das fleißige Werk von Friedr. Will). Val. Schmidt! Die Schauspiele Calderons, dargestellt und erläutert, I8ü7. -»») Vgl. z. B. Friedr. Schlegel, Geschichte der alte» und neuen Literatur. I, 122. Grenzboten II. 1881. 29

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157699/229>, abgerufen am 03.07.2024.