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Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Zweites Quartal.

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Erinnerungen an Heinrich Leo.

stimmten Seite charakteristisch ausgeprägt, so thun wir ihm gut, indem wir das
Examen vorzüglich nach dieser Seite wenden und die Individualität gewähren lassen,
anch über mindere Sicherheit und Vollständigkeit der Kenntnisse nach andern Seiten
gerne hinwegsehen. Ein Examen soll ja nicht dazu da sein, dem Staate edle und
ihm brauchbare Kräfte abzuhalten, sondern vielmehr eben diesen durch Abhaltung
des Zudrangs der Platten Masse den Lebensgang erleichtern. Von dieser Masse,
die völlig mons, Uinorvs, studirt und eben so gut Schuhe flickt, gilt deun freilich
vollkommen Goethes Spruch:


Getretener Quark
Wird breit nicht stark,
Schlägst du ihn aber mit Gewalt
In feste Form, er nimmt Gestalt.
Dergleichen Steine wirst dn kennen,
Europäer Piso sie nennen.

Um solches untergeordnetes Volk zurückzuhalten und es für die vielen Plätze,
für welche Gott es bestimmt hat, noch vollends zurecht zu kneten, sind Examina ganz
gut. Befähigtere werden allerdings durch die Schranken, welche die Rücksicht auf
das Examen hie und da anlegt, bisweilen unmuthig gedrückt; indessen giebt es ein
vortreffliches Mittel gegen Examina, ein Mittel, wodurch man sie sowohl völlig
neutralisirt, als auch beweist, daß man eben zu den Ausgezeichneten gehört, die allen
Verhältnissen, wo es gilt, gewachsen sind -- nämlich man besteht sie und zwar
glänzend. Ungeachtet ich zugebe und selbst behaupte, die Examinationseommissionen
drücken das Leben auf Universitäten herab, bin ich doch überzeugt, es bedürfte nur
einiger Dutzend Leute, die in sich das leichte Gefühl geistiger, dein Examen auf
jeden Fall gewachsener Kraft tragen, um trotz aller Examina dieser Welt das Uni¬
versitätsleben geistig wieder so aufgeregt zu machen, als es je war.

Auch über damals neu erschienene Werke theilte er dem Studenten sein
Urtheil mit.

Grimms Mythologie ist ein ungeheures Werk. Eine ungeheure Wolken-
masse, durch welche die Sonne bricht und nach allen Seiten Licht bringt. Ich habe
dem Buche sehr, sehr viel zu danken. Ungeachtet aber das deutsche Heidenthum,
was hier zur Darstellung kommt, nur noch fragmentarisch und sehr zerbröckelt er¬
kennbar ist, ungeachtet man also den Schluß machen kaun, daß das noch ungebrochne
rein entwickelte Heidenthum in ältester Zeit eine weit reinere, schönere Gestalt in
seinem geistigen Zusammenhang gehabt haben muß, als es jetzt irgend wem wieder¬
zugeben vergönnt ist, habe ich doch am Ende der Lectüre Gott wieder recht von
Herzen dafür gedankt, daß wir Deutsche Christen und so früh Christen geworden
sind. Die Ansicht, welche die Hauptaufgabe in die harmonische schöne Entwicklung
des Eigenthümlichen der Völker und der einzelnen allein setzt -- und darauf läuft
zum großen Theil Goethes ethische Weltansicht hinaus -- ist doch, bei Lichte be¬
sehen, eine recht arme, und das Heidenthum in seiner schönsten Gestalt ein eigene-


Erinnerungen an Heinrich Leo.

stimmten Seite charakteristisch ausgeprägt, so thun wir ihm gut, indem wir das
Examen vorzüglich nach dieser Seite wenden und die Individualität gewähren lassen,
anch über mindere Sicherheit und Vollständigkeit der Kenntnisse nach andern Seiten
gerne hinwegsehen. Ein Examen soll ja nicht dazu da sein, dem Staate edle und
ihm brauchbare Kräfte abzuhalten, sondern vielmehr eben diesen durch Abhaltung
des Zudrangs der Platten Masse den Lebensgang erleichtern. Von dieser Masse,
die völlig mons, Uinorvs, studirt und eben so gut Schuhe flickt, gilt deun freilich
vollkommen Goethes Spruch:


Getretener Quark
Wird breit nicht stark,
Schlägst du ihn aber mit Gewalt
In feste Form, er nimmt Gestalt.
Dergleichen Steine wirst dn kennen,
Europäer Piso sie nennen.

Um solches untergeordnetes Volk zurückzuhalten und es für die vielen Plätze,
für welche Gott es bestimmt hat, noch vollends zurecht zu kneten, sind Examina ganz
gut. Befähigtere werden allerdings durch die Schranken, welche die Rücksicht auf
das Examen hie und da anlegt, bisweilen unmuthig gedrückt; indessen giebt es ein
vortreffliches Mittel gegen Examina, ein Mittel, wodurch man sie sowohl völlig
neutralisirt, als auch beweist, daß man eben zu den Ausgezeichneten gehört, die allen
Verhältnissen, wo es gilt, gewachsen sind — nämlich man besteht sie und zwar
glänzend. Ungeachtet ich zugebe und selbst behaupte, die Examinationseommissionen
drücken das Leben auf Universitäten herab, bin ich doch überzeugt, es bedürfte nur
einiger Dutzend Leute, die in sich das leichte Gefühl geistiger, dein Examen auf
jeden Fall gewachsener Kraft tragen, um trotz aller Examina dieser Welt das Uni¬
versitätsleben geistig wieder so aufgeregt zu machen, als es je war.

Auch über damals neu erschienene Werke theilte er dem Studenten sein
Urtheil mit.

Grimms Mythologie ist ein ungeheures Werk. Eine ungeheure Wolken-
masse, durch welche die Sonne bricht und nach allen Seiten Licht bringt. Ich habe
dem Buche sehr, sehr viel zu danken. Ungeachtet aber das deutsche Heidenthum,
was hier zur Darstellung kommt, nur noch fragmentarisch und sehr zerbröckelt er¬
kennbar ist, ungeachtet man also den Schluß machen kaun, daß das noch ungebrochne
rein entwickelte Heidenthum in ältester Zeit eine weit reinere, schönere Gestalt in
seinem geistigen Zusammenhang gehabt haben muß, als es jetzt irgend wem wieder¬
zugeben vergönnt ist, habe ich doch am Ende der Lectüre Gott wieder recht von
Herzen dafür gedankt, daß wir Deutsche Christen und so früh Christen geworden
sind. Die Ansicht, welche die Hauptaufgabe in die harmonische schöne Entwicklung
des Eigenthümlichen der Völker und der einzelnen allein setzt — und darauf läuft
zum großen Theil Goethes ethische Weltansicht hinaus — ist doch, bei Lichte be¬
sehen, eine recht arme, und das Heidenthum in seiner schönsten Gestalt ein eigene-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157699/223>, abgerufen am 05.07.2024.