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Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Zweites Quartal.

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Erinnerungen an Heinrich keo.

abgelegt; sein starkes Haar, welches den ganzen Rücken deckte und fast bis zu
den Schenkeln reichte, hat damals kein Scheermesser berührt. Seiner Natur¬
wüchsigkeit sehlte in der Jugend die von den Griechen so hoch gehaltn" Sophro-
syne, das wohlthuende Maß im mündlichen und schriftlichen Verkehr.

Leo hat diese seine Jugendzeit selbst geschildert. Das Bruchstück einer Selbst¬
biographie ist vor kurzem der Öffentlichkeit übergeben worden.*) Der Einblick
in die psychologische Entwicklung dieser nicht gewöhnlichen Natur wird auch auf
den Fernstehenden eine Anziehungskraft ausüben. Die ersten Eindrücke der Kind¬
heit haben bleibenden Einfluß auf Leos ganzes Leben ausgeübt, ja zur Aus¬
bildung seiner Eigenart wesentlich beigetragen, und wie in der Jugend, so ist er
auch später in der Wissenschaft seine eignen Wege gegangen. Frühzeitig haben
ihn nach den eignen Angaben Lernbegierde, Ehrgeiz, aber auch Streitlust beseelt.
Die Bildungsgeschichte ist mit schwärmerischer Frische und farbenreicher Anschau¬
lichkeit angenehm erzählt. Freilich tritt nach der Natur des Erzählers öfters
eine cynische Offenheit und drastische Derbheit hervor. Gewiß werden einzelne zu
ausgedehnte Erzählungen und zu umständliche Schilderungen aus der Gymna¬
siasten- und Studentenzeit einem großem Leserkreise wahrscheinlich weniger Inter¬
esse darbieten, aber die ganze Darstellung hinterläßt doch den Eindruck unbedingter
Wahrheit. Und abgesehen von dem Werthe für die persönliche Beurtheilung Leos
und zum Verständniß seines Wesens werden diese "Bildungsmotive" noch zu
einem gegenständlichen Gebiete für die Culturgeschichte Deutschlands neuerer Zeit.
Denn die freilich während des Alters niedergeschriebneu Jugenderinnerungen
-- sie reichen von der Geburt 1799 bis zum Jahre 1822 -- gewähren einen
sehr beachtenswerthen Veitrag zur Geschichte des deutschen Universitätslebens in
dem zweiten Decennium unsers Jahrhunderts und zur Ausklärung der jetzt aller¬
dings unverständlichen Verfolgungen von Studenten als "Demagogen" nach dem
Wartburgfeste von 1819.

Heinrich Leo wurde am 19. März 1799 zu Rudolstadt geboren. Sein
Vater war in jener Stadt Miliz-Prediger, wurde aber bald nachher als Land¬
pfarrer nach Bräunsdorf, auf die Höhe des Thüringer Waldes versetzt. Dort ist
in einem rauhen Klima, bei höchst einfacher Lebensweise und in der Anschauung
patriarchalischer Armuth der zarte, schwächliche Knabe aufgewachsen, aber in einem
reichen Kindesleben, dessen Mittelpunkt Wald, Feld und die Spinnstube bildeten.
Der Vater unterrichtete ihn; Luthers Katechismus, Raffs Geographie und dessen
Naturgeschichte waren seine ersten Unterrichtsbücher. Am wichtigsten für seine
ganze Lebens- und Charakterbildung wurde eine Geschichte der Versuche der



5) Meine Jugendzeit Von Heinrich Leo. Mit Phowgmphie. Gotha, F. A. Perthes, 1880.
Erinnerungen an Heinrich keo.

abgelegt; sein starkes Haar, welches den ganzen Rücken deckte und fast bis zu
den Schenkeln reichte, hat damals kein Scheermesser berührt. Seiner Natur¬
wüchsigkeit sehlte in der Jugend die von den Griechen so hoch gehaltn« Sophro-
syne, das wohlthuende Maß im mündlichen und schriftlichen Verkehr.

Leo hat diese seine Jugendzeit selbst geschildert. Das Bruchstück einer Selbst¬
biographie ist vor kurzem der Öffentlichkeit übergeben worden.*) Der Einblick
in die psychologische Entwicklung dieser nicht gewöhnlichen Natur wird auch auf
den Fernstehenden eine Anziehungskraft ausüben. Die ersten Eindrücke der Kind¬
heit haben bleibenden Einfluß auf Leos ganzes Leben ausgeübt, ja zur Aus¬
bildung seiner Eigenart wesentlich beigetragen, und wie in der Jugend, so ist er
auch später in der Wissenschaft seine eignen Wege gegangen. Frühzeitig haben
ihn nach den eignen Angaben Lernbegierde, Ehrgeiz, aber auch Streitlust beseelt.
Die Bildungsgeschichte ist mit schwärmerischer Frische und farbenreicher Anschau¬
lichkeit angenehm erzählt. Freilich tritt nach der Natur des Erzählers öfters
eine cynische Offenheit und drastische Derbheit hervor. Gewiß werden einzelne zu
ausgedehnte Erzählungen und zu umständliche Schilderungen aus der Gymna¬
siasten- und Studentenzeit einem großem Leserkreise wahrscheinlich weniger Inter¬
esse darbieten, aber die ganze Darstellung hinterläßt doch den Eindruck unbedingter
Wahrheit. Und abgesehen von dem Werthe für die persönliche Beurtheilung Leos
und zum Verständniß seines Wesens werden diese „Bildungsmotive" noch zu
einem gegenständlichen Gebiete für die Culturgeschichte Deutschlands neuerer Zeit.
Denn die freilich während des Alters niedergeschriebneu Jugenderinnerungen
— sie reichen von der Geburt 1799 bis zum Jahre 1822 — gewähren einen
sehr beachtenswerthen Veitrag zur Geschichte des deutschen Universitätslebens in
dem zweiten Decennium unsers Jahrhunderts und zur Ausklärung der jetzt aller¬
dings unverständlichen Verfolgungen von Studenten als „Demagogen" nach dem
Wartburgfeste von 1819.

Heinrich Leo wurde am 19. März 1799 zu Rudolstadt geboren. Sein
Vater war in jener Stadt Miliz-Prediger, wurde aber bald nachher als Land¬
pfarrer nach Bräunsdorf, auf die Höhe des Thüringer Waldes versetzt. Dort ist
in einem rauhen Klima, bei höchst einfacher Lebensweise und in der Anschauung
patriarchalischer Armuth der zarte, schwächliche Knabe aufgewachsen, aber in einem
reichen Kindesleben, dessen Mittelpunkt Wald, Feld und die Spinnstube bildeten.
Der Vater unterrichtete ihn; Luthers Katechismus, Raffs Geographie und dessen
Naturgeschichte waren seine ersten Unterrichtsbücher. Am wichtigsten für seine
ganze Lebens- und Charakterbildung wurde eine Geschichte der Versuche der



5) Meine Jugendzeit Von Heinrich Leo. Mit Phowgmphie. Gotha, F. A. Perthes, 1880.
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[0215] Erinnerungen an Heinrich keo. abgelegt; sein starkes Haar, welches den ganzen Rücken deckte und fast bis zu den Schenkeln reichte, hat damals kein Scheermesser berührt. Seiner Natur¬ wüchsigkeit sehlte in der Jugend die von den Griechen so hoch gehaltn« Sophro- syne, das wohlthuende Maß im mündlichen und schriftlichen Verkehr. Leo hat diese seine Jugendzeit selbst geschildert. Das Bruchstück einer Selbst¬ biographie ist vor kurzem der Öffentlichkeit übergeben worden.*) Der Einblick in die psychologische Entwicklung dieser nicht gewöhnlichen Natur wird auch auf den Fernstehenden eine Anziehungskraft ausüben. Die ersten Eindrücke der Kind¬ heit haben bleibenden Einfluß auf Leos ganzes Leben ausgeübt, ja zur Aus¬ bildung seiner Eigenart wesentlich beigetragen, und wie in der Jugend, so ist er auch später in der Wissenschaft seine eignen Wege gegangen. Frühzeitig haben ihn nach den eignen Angaben Lernbegierde, Ehrgeiz, aber auch Streitlust beseelt. Die Bildungsgeschichte ist mit schwärmerischer Frische und farbenreicher Anschau¬ lichkeit angenehm erzählt. Freilich tritt nach der Natur des Erzählers öfters eine cynische Offenheit und drastische Derbheit hervor. Gewiß werden einzelne zu ausgedehnte Erzählungen und zu umständliche Schilderungen aus der Gymna¬ siasten- und Studentenzeit einem großem Leserkreise wahrscheinlich weniger Inter¬ esse darbieten, aber die ganze Darstellung hinterläßt doch den Eindruck unbedingter Wahrheit. Und abgesehen von dem Werthe für die persönliche Beurtheilung Leos und zum Verständniß seines Wesens werden diese „Bildungsmotive" noch zu einem gegenständlichen Gebiete für die Culturgeschichte Deutschlands neuerer Zeit. Denn die freilich während des Alters niedergeschriebneu Jugenderinnerungen — sie reichen von der Geburt 1799 bis zum Jahre 1822 — gewähren einen sehr beachtenswerthen Veitrag zur Geschichte des deutschen Universitätslebens in dem zweiten Decennium unsers Jahrhunderts und zur Ausklärung der jetzt aller¬ dings unverständlichen Verfolgungen von Studenten als „Demagogen" nach dem Wartburgfeste von 1819. Heinrich Leo wurde am 19. März 1799 zu Rudolstadt geboren. Sein Vater war in jener Stadt Miliz-Prediger, wurde aber bald nachher als Land¬ pfarrer nach Bräunsdorf, auf die Höhe des Thüringer Waldes versetzt. Dort ist in einem rauhen Klima, bei höchst einfacher Lebensweise und in der Anschauung patriarchalischer Armuth der zarte, schwächliche Knabe aufgewachsen, aber in einem reichen Kindesleben, dessen Mittelpunkt Wald, Feld und die Spinnstube bildeten. Der Vater unterrichtete ihn; Luthers Katechismus, Raffs Geographie und dessen Naturgeschichte waren seine ersten Unterrichtsbücher. Am wichtigsten für seine ganze Lebens- und Charakterbildung wurde eine Geschichte der Versuche der 5) Meine Jugendzeit Von Heinrich Leo. Mit Phowgmphie. Gotha, F. A. Perthes, 1880.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157699/215>, abgerufen am 26.08.2024.