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Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Zweites Quartal.

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Neue Dramen.

rechneten Arbeiten irgend etwas zu begehren. Mit einemmale kommt zu Tage,
daß für die "beliebten" Stücke ein kritischer Maßstab von liliputmäßiger Kürze
angewandt wird. Vorher freilich hat es geklungen, als ob alle die Pvssendichter
und Versationsstückfabrikanten kühnlich mit Moliöre und Holberg in die Schranken
treten könnten!

Wer diese Verhältnisse betrachtet, ohne die unglaubliche Lust der Deutschen
an und zu einer gefährdeten Sache in Anschlag zu bringen, der muß allerdings
des Glaubens leben, daß wir einem Zustand wie in England entgegengehen, wo
eine dramatische Literatur im engeren Sinne nicht mehr existirt, die alten Spiel¬
macher in modern unerfreulicher Gestalt aufgetaucht sind: Bühnenlieferanten,
welche der Literatur, ihrem Bildungsstand, ihren Bestrebungen und Ehren gänz¬
lich fremd bleiben. Für die eigentlichen Dichter und Schriftsteller ist dort die
gelegentliche Anwendung der dramatischen Form etwas rein Zufälliges. Es giebt
einzelne Stücke von Bulwer, Kingsley, Tennhsvn, Browning -- niemand wird
sagen, daß sie eine dramatische Literatur repräsentiren und an die "reale Bühne"
vollends scheint bei ihnen nicht gedacht worden zu sein. Daß wir noch nicht
dahin gelangt sind, daß das Verhältniß der Literatur zum Theater noch nicht
völlig gelöst ist und als hoffnungslos angesehen wird, dafür bürgt die Masse der
dramatischen Werke, Anläufe, Versuche oder wie man sie sonst nennen will, von
denen wenigstens ein guter Theil die Bühne im Auge hat, eines und das andre
sich sicher zur Aufführung 'empfiehlt. Wie die Dinge liegen, vermag die Kritik
nicht vielmehr zu thun, als das Bessere, innere Selbstständigkeit und ein eignes
Gepräge Zeigende herauszuheben und vom Stammeln des Dilettantismus zu
trennen. Und sie darf gelegentlich auf ganz verfehlte Experimente, anmuthige
und unanmuthige Gräuel des Dilettantismus hinweisen, nicht um der dramatischen
Bestrebungen und des Ringens nach dramatischer Gestaltung auch unsres Lebens
und Empfindens zu spotten, fondern um in dem spärlichen Publieum, das die
Literatur allenfalls noch hat, das Gefühl, daß es Unterschiede giebt, nicht vollends
verloren gehen zu lassen.

Die zahlreichen dramatischen Dichtungen, die uns heute vorliegen, sind ihrer
Mehrzahl nach Tragödien und sprechen, wie die Dinge liegen, schon mit dem
Titel ihre Unausführbarkeit aus. Unsere darniederliegende Schauspielkunst ver¬
mag dem Dichter, wo ihm etwas Menschliches passirt ist, schon längst nicht mehr
zu Hilfe zu kommeu. In allen Aufführungen neuerer Tragödien, die wir erlebt,
(die einzige Tragödie "Die Bluthochzeit" von Albert Lindner durch die Meininger
ausgenommen) blieben die Darstellungen weit hinter den Dichtungen zurück, so
wenig dieselben Meisterwerke waren. Keine der Tragödien aber, die wir heute
anzuzeigen haben, enthält so starkes Leben, so mächtige Charaktere und ergreifende


Neue Dramen.

rechneten Arbeiten irgend etwas zu begehren. Mit einemmale kommt zu Tage,
daß für die „beliebten" Stücke ein kritischer Maßstab von liliputmäßiger Kürze
angewandt wird. Vorher freilich hat es geklungen, als ob alle die Pvssendichter
und Versationsstückfabrikanten kühnlich mit Moliöre und Holberg in die Schranken
treten könnten!

Wer diese Verhältnisse betrachtet, ohne die unglaubliche Lust der Deutschen
an und zu einer gefährdeten Sache in Anschlag zu bringen, der muß allerdings
des Glaubens leben, daß wir einem Zustand wie in England entgegengehen, wo
eine dramatische Literatur im engeren Sinne nicht mehr existirt, die alten Spiel¬
macher in modern unerfreulicher Gestalt aufgetaucht sind: Bühnenlieferanten,
welche der Literatur, ihrem Bildungsstand, ihren Bestrebungen und Ehren gänz¬
lich fremd bleiben. Für die eigentlichen Dichter und Schriftsteller ist dort die
gelegentliche Anwendung der dramatischen Form etwas rein Zufälliges. Es giebt
einzelne Stücke von Bulwer, Kingsley, Tennhsvn, Browning — niemand wird
sagen, daß sie eine dramatische Literatur repräsentiren und an die „reale Bühne"
vollends scheint bei ihnen nicht gedacht worden zu sein. Daß wir noch nicht
dahin gelangt sind, daß das Verhältniß der Literatur zum Theater noch nicht
völlig gelöst ist und als hoffnungslos angesehen wird, dafür bürgt die Masse der
dramatischen Werke, Anläufe, Versuche oder wie man sie sonst nennen will, von
denen wenigstens ein guter Theil die Bühne im Auge hat, eines und das andre
sich sicher zur Aufführung 'empfiehlt. Wie die Dinge liegen, vermag die Kritik
nicht vielmehr zu thun, als das Bessere, innere Selbstständigkeit und ein eignes
Gepräge Zeigende herauszuheben und vom Stammeln des Dilettantismus zu
trennen. Und sie darf gelegentlich auf ganz verfehlte Experimente, anmuthige
und unanmuthige Gräuel des Dilettantismus hinweisen, nicht um der dramatischen
Bestrebungen und des Ringens nach dramatischer Gestaltung auch unsres Lebens
und Empfindens zu spotten, fondern um in dem spärlichen Publieum, das die
Literatur allenfalls noch hat, das Gefühl, daß es Unterschiede giebt, nicht vollends
verloren gehen zu lassen.

Die zahlreichen dramatischen Dichtungen, die uns heute vorliegen, sind ihrer
Mehrzahl nach Tragödien und sprechen, wie die Dinge liegen, schon mit dem
Titel ihre Unausführbarkeit aus. Unsere darniederliegende Schauspielkunst ver¬
mag dem Dichter, wo ihm etwas Menschliches passirt ist, schon längst nicht mehr
zu Hilfe zu kommeu. In allen Aufführungen neuerer Tragödien, die wir erlebt,
(die einzige Tragödie „Die Bluthochzeit" von Albert Lindner durch die Meininger
ausgenommen) blieben die Darstellungen weit hinter den Dichtungen zurück, so
wenig dieselben Meisterwerke waren. Keine der Tragödien aber, die wir heute
anzuzeigen haben, enthält so starkes Leben, so mächtige Charaktere und ergreifende


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[0135] Neue Dramen. rechneten Arbeiten irgend etwas zu begehren. Mit einemmale kommt zu Tage, daß für die „beliebten" Stücke ein kritischer Maßstab von liliputmäßiger Kürze angewandt wird. Vorher freilich hat es geklungen, als ob alle die Pvssendichter und Versationsstückfabrikanten kühnlich mit Moliöre und Holberg in die Schranken treten könnten! Wer diese Verhältnisse betrachtet, ohne die unglaubliche Lust der Deutschen an und zu einer gefährdeten Sache in Anschlag zu bringen, der muß allerdings des Glaubens leben, daß wir einem Zustand wie in England entgegengehen, wo eine dramatische Literatur im engeren Sinne nicht mehr existirt, die alten Spiel¬ macher in modern unerfreulicher Gestalt aufgetaucht sind: Bühnenlieferanten, welche der Literatur, ihrem Bildungsstand, ihren Bestrebungen und Ehren gänz¬ lich fremd bleiben. Für die eigentlichen Dichter und Schriftsteller ist dort die gelegentliche Anwendung der dramatischen Form etwas rein Zufälliges. Es giebt einzelne Stücke von Bulwer, Kingsley, Tennhsvn, Browning — niemand wird sagen, daß sie eine dramatische Literatur repräsentiren und an die „reale Bühne" vollends scheint bei ihnen nicht gedacht worden zu sein. Daß wir noch nicht dahin gelangt sind, daß das Verhältniß der Literatur zum Theater noch nicht völlig gelöst ist und als hoffnungslos angesehen wird, dafür bürgt die Masse der dramatischen Werke, Anläufe, Versuche oder wie man sie sonst nennen will, von denen wenigstens ein guter Theil die Bühne im Auge hat, eines und das andre sich sicher zur Aufführung 'empfiehlt. Wie die Dinge liegen, vermag die Kritik nicht vielmehr zu thun, als das Bessere, innere Selbstständigkeit und ein eignes Gepräge Zeigende herauszuheben und vom Stammeln des Dilettantismus zu trennen. Und sie darf gelegentlich auf ganz verfehlte Experimente, anmuthige und unanmuthige Gräuel des Dilettantismus hinweisen, nicht um der dramatischen Bestrebungen und des Ringens nach dramatischer Gestaltung auch unsres Lebens und Empfindens zu spotten, fondern um in dem spärlichen Publieum, das die Literatur allenfalls noch hat, das Gefühl, daß es Unterschiede giebt, nicht vollends verloren gehen zu lassen. Die zahlreichen dramatischen Dichtungen, die uns heute vorliegen, sind ihrer Mehrzahl nach Tragödien und sprechen, wie die Dinge liegen, schon mit dem Titel ihre Unausführbarkeit aus. Unsere darniederliegende Schauspielkunst ver¬ mag dem Dichter, wo ihm etwas Menschliches passirt ist, schon längst nicht mehr zu Hilfe zu kommeu. In allen Aufführungen neuerer Tragödien, die wir erlebt, (die einzige Tragödie „Die Bluthochzeit" von Albert Lindner durch die Meininger ausgenommen) blieben die Darstellungen weit hinter den Dichtungen zurück, so wenig dieselben Meisterwerke waren. Keine der Tragödien aber, die wir heute anzuzeigen haben, enthält so starkes Leben, so mächtige Charaktere und ergreifende

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157699/135>, abgerufen am 23.07.2024.