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Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Zweites Quartal.

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Neue Dramen.

Tage treten. Aber sie geben ein schlagendes Beispiel, wie unbefangen, um es
nicht schlimmer zu benennen, die Beherrscher der Tageskritik gewisse Schlagworte
weitergeben. Unter Buchdramen hat man von Hans aus nichts andres verstehen
können, als jene zahlreichen, formlosen Gebilde, welche sich lediglich als eine
Folge unzusammenhängender Scenen, epischer oder lyrisch-rhetorischer Bruchstücke
darstellen und freilich jeder Möglichkeit einer theatralischen Vorführung spotten.
Im Laufe der Zeit jedoch hat sich ein Sprachgebrauch herausgebildet, wonach
als Buchdrama nicht nur jedes (auch das bühnengerechteste) Werk gilt, welches
nicht auf die Bretter gelangt und dennoch im Drucke erscheint, und in letzter
Instanz jeder dramatische Versuch, der sich über das Niveau des zeitgemäßen
Theaterstücks erhebt, respective zu erheben sucht. Im Jargon der witzelnden
Feuilletvnkritik sind die liederlichsten, dramatisch nichtigsten, ohne Handlung wie
ohne Charakteristik zusammengestoppelten, aber mit einer Chargerolle und obligater
Ausstattung gangbar gemachten Situationspossen und Romandramatisirnngen --
dramatisch brauchbare, ja werthvolle Werke, die poetischen Arbeiten zahlreicher
jüngrer Dramatiker, selbst wenn sie einen wirklich dramatischen Kern, dramatische
Steigerung und Schlagkraft aufweisen -- Buchdramen. Ueberall wird mit doppelten
und mannichfaltigsten Maßstäben gemessen und Schillers derbkräftiges Wort: "ich
weiß nichts Impertinenteres, als von einer Seite dem Erbärmlichen nachzulaufen
und dann, wenn jemand demselben zu Leibe geht, zu thun, als ob man es bloß
geduldet hätte; erst es dem Guten entgegenzusetzen, und dann sich zu stellen, als ob es
grausam wäre, es mit demselben vergleichen zu wollen", könnte als Motto über
diesem ganzen Treiben stehen. Dem ernststrebenden Dramatiker wird unter Hohn
bewiesen, daß er weder Shakespeare noch Schiller, sondern eben nnr Paul Heyse,
Wilbraudt oder wie er sich sonst nennen mag, sei.

Der poetische Kenne und gute Ansätze zu Handlung und Charakterdarstellung
enthaltende Versuch des Anfängers wird wegen mangelnder Bühnentechnik, Nicht¬
Verständniß des eigentlich Dramatischen geringschätzig abgefertigt. Die gangbare
theatralische Waare, in der zumeist alle Elemente zu finden sind, nur keine dra¬
matischen, wird mit den üblichen Prüdimten des "Origineller," "Pikanten," "Unter¬
haltenden," "Amüsanten," "Hochspannenden," "Effectreichen," "Ueberraschenden,"
"Fascinireuden," und "Fortreißenden" in allen Tonarten anempfohlen. Nimmt
sich dann irgendwer die Mühe, den Bettel als Bettel zu chamkterisireu, die Ab¬
wesenheit jedes dramatischen Interesses und auch nur des Ansatzes zu einer
wirklichen Menschendarstellung nachzuweisen und geiht-, gemüths- und selbst witz¬
leere Flachheit solcher Tageswaare festzustellen, so beginnt groß Wehklagen, ob
der Unbilligkeit, von theatralischen auf die Bedürfnisse der Direction, auf die
leichteste Unterhaltung eines bei schwerer Tagesarbeit ermüdeten Publicums be-


Neue Dramen.

Tage treten. Aber sie geben ein schlagendes Beispiel, wie unbefangen, um es
nicht schlimmer zu benennen, die Beherrscher der Tageskritik gewisse Schlagworte
weitergeben. Unter Buchdramen hat man von Hans aus nichts andres verstehen
können, als jene zahlreichen, formlosen Gebilde, welche sich lediglich als eine
Folge unzusammenhängender Scenen, epischer oder lyrisch-rhetorischer Bruchstücke
darstellen und freilich jeder Möglichkeit einer theatralischen Vorführung spotten.
Im Laufe der Zeit jedoch hat sich ein Sprachgebrauch herausgebildet, wonach
als Buchdrama nicht nur jedes (auch das bühnengerechteste) Werk gilt, welches
nicht auf die Bretter gelangt und dennoch im Drucke erscheint, und in letzter
Instanz jeder dramatische Versuch, der sich über das Niveau des zeitgemäßen
Theaterstücks erhebt, respective zu erheben sucht. Im Jargon der witzelnden
Feuilletvnkritik sind die liederlichsten, dramatisch nichtigsten, ohne Handlung wie
ohne Charakteristik zusammengestoppelten, aber mit einer Chargerolle und obligater
Ausstattung gangbar gemachten Situationspossen und Romandramatisirnngen —
dramatisch brauchbare, ja werthvolle Werke, die poetischen Arbeiten zahlreicher
jüngrer Dramatiker, selbst wenn sie einen wirklich dramatischen Kern, dramatische
Steigerung und Schlagkraft aufweisen — Buchdramen. Ueberall wird mit doppelten
und mannichfaltigsten Maßstäben gemessen und Schillers derbkräftiges Wort: „ich
weiß nichts Impertinenteres, als von einer Seite dem Erbärmlichen nachzulaufen
und dann, wenn jemand demselben zu Leibe geht, zu thun, als ob man es bloß
geduldet hätte; erst es dem Guten entgegenzusetzen, und dann sich zu stellen, als ob es
grausam wäre, es mit demselben vergleichen zu wollen", könnte als Motto über
diesem ganzen Treiben stehen. Dem ernststrebenden Dramatiker wird unter Hohn
bewiesen, daß er weder Shakespeare noch Schiller, sondern eben nnr Paul Heyse,
Wilbraudt oder wie er sich sonst nennen mag, sei.

Der poetische Kenne und gute Ansätze zu Handlung und Charakterdarstellung
enthaltende Versuch des Anfängers wird wegen mangelnder Bühnentechnik, Nicht¬
Verständniß des eigentlich Dramatischen geringschätzig abgefertigt. Die gangbare
theatralische Waare, in der zumeist alle Elemente zu finden sind, nur keine dra¬
matischen, wird mit den üblichen Prüdimten des „Origineller," „Pikanten," „Unter¬
haltenden," „Amüsanten," „Hochspannenden," „Effectreichen," „Ueberraschenden,"
„Fascinireuden," und „Fortreißenden" in allen Tonarten anempfohlen. Nimmt
sich dann irgendwer die Mühe, den Bettel als Bettel zu chamkterisireu, die Ab¬
wesenheit jedes dramatischen Interesses und auch nur des Ansatzes zu einer
wirklichen Menschendarstellung nachzuweisen und geiht-, gemüths- und selbst witz¬
leere Flachheit solcher Tageswaare festzustellen, so beginnt groß Wehklagen, ob
der Unbilligkeit, von theatralischen auf die Bedürfnisse der Direction, auf die
leichteste Unterhaltung eines bei schwerer Tagesarbeit ermüdeten Publicums be-


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[0134] Neue Dramen. Tage treten. Aber sie geben ein schlagendes Beispiel, wie unbefangen, um es nicht schlimmer zu benennen, die Beherrscher der Tageskritik gewisse Schlagworte weitergeben. Unter Buchdramen hat man von Hans aus nichts andres verstehen können, als jene zahlreichen, formlosen Gebilde, welche sich lediglich als eine Folge unzusammenhängender Scenen, epischer oder lyrisch-rhetorischer Bruchstücke darstellen und freilich jeder Möglichkeit einer theatralischen Vorführung spotten. Im Laufe der Zeit jedoch hat sich ein Sprachgebrauch herausgebildet, wonach als Buchdrama nicht nur jedes (auch das bühnengerechteste) Werk gilt, welches nicht auf die Bretter gelangt und dennoch im Drucke erscheint, und in letzter Instanz jeder dramatische Versuch, der sich über das Niveau des zeitgemäßen Theaterstücks erhebt, respective zu erheben sucht. Im Jargon der witzelnden Feuilletvnkritik sind die liederlichsten, dramatisch nichtigsten, ohne Handlung wie ohne Charakteristik zusammengestoppelten, aber mit einer Chargerolle und obligater Ausstattung gangbar gemachten Situationspossen und Romandramatisirnngen — dramatisch brauchbare, ja werthvolle Werke, die poetischen Arbeiten zahlreicher jüngrer Dramatiker, selbst wenn sie einen wirklich dramatischen Kern, dramatische Steigerung und Schlagkraft aufweisen — Buchdramen. Ueberall wird mit doppelten und mannichfaltigsten Maßstäben gemessen und Schillers derbkräftiges Wort: „ich weiß nichts Impertinenteres, als von einer Seite dem Erbärmlichen nachzulaufen und dann, wenn jemand demselben zu Leibe geht, zu thun, als ob man es bloß geduldet hätte; erst es dem Guten entgegenzusetzen, und dann sich zu stellen, als ob es grausam wäre, es mit demselben vergleichen zu wollen", könnte als Motto über diesem ganzen Treiben stehen. Dem ernststrebenden Dramatiker wird unter Hohn bewiesen, daß er weder Shakespeare noch Schiller, sondern eben nnr Paul Heyse, Wilbraudt oder wie er sich sonst nennen mag, sei. Der poetische Kenne und gute Ansätze zu Handlung und Charakterdarstellung enthaltende Versuch des Anfängers wird wegen mangelnder Bühnentechnik, Nicht¬ Verständniß des eigentlich Dramatischen geringschätzig abgefertigt. Die gangbare theatralische Waare, in der zumeist alle Elemente zu finden sind, nur keine dra¬ matischen, wird mit den üblichen Prüdimten des „Origineller," „Pikanten," „Unter¬ haltenden," „Amüsanten," „Hochspannenden," „Effectreichen," „Ueberraschenden," „Fascinireuden," und „Fortreißenden" in allen Tonarten anempfohlen. Nimmt sich dann irgendwer die Mühe, den Bettel als Bettel zu chamkterisireu, die Ab¬ wesenheit jedes dramatischen Interesses und auch nur des Ansatzes zu einer wirklichen Menschendarstellung nachzuweisen und geiht-, gemüths- und selbst witz¬ leere Flachheit solcher Tageswaare festzustellen, so beginnt groß Wehklagen, ob der Unbilligkeit, von theatralischen auf die Bedürfnisse der Direction, auf die leichteste Unterhaltung eines bei schwerer Tagesarbeit ermüdeten Publicums be-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157699/134>, abgerufen am 23.07.2024.