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Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Zweites Quartal.

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Aus den Denkwürdigkeiten Jakob Estiennes.

Krankheit zu machen Zeit hatte, entfernt von einem guten Vater und meiner
guten Mutter, welche mich liebten, und der Tröstungen und Hilfe beraubt, die
sie mir so gerne gewährt hätten, wenn ich bei ihnen gewesen wäre.

Ich war besonders betrübt, keinen Trost von einem guten Prediger zu
haben, indem ich in dem ganzen Lande keinen kannte. Ich hatte übrigens große
Reue über meine Fehler und tröstete mich in Gott mit Hilfe meines neuen
Testaments und eines guten Gebetbuchs, welche ich Sorge getragen hatte, mit
mir zu führen. Immer lagen sie unter meinem Kopfkissen und, sobald es mir
mein Uebel gestattete, bediente ich mich ihrer mit Nutzen, Lernet hieraus, immer
mit diesen vortrefflichen Büchern versehen zu sein, welche Nahrung für die Seele
sind! Lernet sie mit Aufmerksamkeit lesen, ihre möget nun gesund oder krank,
ruhig zu Hause oder auf Reisen sein!

In den guten Augenblicken am Ende meiner Krankheit fing ich an, einige
Schritte in meiner Stube zu gehen. Da ich mich eines Tages einem Fenster
genähert hatte, welches nach dem Kirchhofe hinausging, wo man die Todten
unsres Krankenhauses beerdigte, so brachte man gerade einen auf einer Art von
Bahre, ohne Sarg, in bloßem Hemde, ohne alle andre Begleitung, als die seiner
Träger. Da diese einen Stein aufgehoben hatten, welcher ein großes Loch be¬
deckte, nahmen sie ihm sein Hemde, faßten ihn bei den Füßen und warfen ihn,
ganz nackend, den Kopf voraus, in dieses abscheuliche Loch, welches ein so tiefer
Keller war, daß der fallende Körper ein so großes Geräusch verursachte, dnß
ich an dem Orte, wo ich mich befand, es genau hörte. Als ich mein Entsetzen
hierüber meinen Gefährten bezeugt hatte, welche Papisten waren, sagten sie mir,
indem sie sich rühmten, daß, wenn ich stürbe, die Ehre, dorthin gebracht zu werde",
mir nicht erzeigt werden würde, weil ich ein Ketzer sei, sondern daß ich in einer
Bastei mein Grab finden würde. Ich bezeugte ihnen, daß dieser letztere Ort
mir besser gefalle, als jenes stinkende Loch.

Unser Schiffsprediger, ein Priester aus der Provence, aber dennoch ein
guter Mann, kam zuweilen, um die Kranken zu besuchen, auf unser Zimmer.
Eines Tages näherte er sich meinem Bette und nachdem er sich nach meiner
Gesundheit erkundigt hatte, fragte er mich, ob ich in meiner Religion sterben
wolle. Als ich ihm meinen Willen gesagt hatte, feuerte er mich an, einen guten
Gebrauch von meinen letzten Augenblicken zu machen. Ich dankte ihm dafür
und bezeigte ihm zugleich meine Unruhe darüber, daß, da er den Kranken jetzt
das heilige Abendmahl reichen werde, ich fürchte, man möge mir eine Schmach
anthun, indem man mich zu irgend einer Handlung gegen mein Gewissen nöthigte.
"Nein," sagte er, "bleiben Sie ruhig in Ihrem Bette, und man wird Ihnen nicht
das geringste sagen." Es kam ebenso, wie er vorhergesagt hatte. Nachdem ich


Aus den Denkwürdigkeiten Jakob Estiennes.

Krankheit zu machen Zeit hatte, entfernt von einem guten Vater und meiner
guten Mutter, welche mich liebten, und der Tröstungen und Hilfe beraubt, die
sie mir so gerne gewährt hätten, wenn ich bei ihnen gewesen wäre.

Ich war besonders betrübt, keinen Trost von einem guten Prediger zu
haben, indem ich in dem ganzen Lande keinen kannte. Ich hatte übrigens große
Reue über meine Fehler und tröstete mich in Gott mit Hilfe meines neuen
Testaments und eines guten Gebetbuchs, welche ich Sorge getragen hatte, mit
mir zu führen. Immer lagen sie unter meinem Kopfkissen und, sobald es mir
mein Uebel gestattete, bediente ich mich ihrer mit Nutzen, Lernet hieraus, immer
mit diesen vortrefflichen Büchern versehen zu sein, welche Nahrung für die Seele
sind! Lernet sie mit Aufmerksamkeit lesen, ihre möget nun gesund oder krank,
ruhig zu Hause oder auf Reisen sein!

In den guten Augenblicken am Ende meiner Krankheit fing ich an, einige
Schritte in meiner Stube zu gehen. Da ich mich eines Tages einem Fenster
genähert hatte, welches nach dem Kirchhofe hinausging, wo man die Todten
unsres Krankenhauses beerdigte, so brachte man gerade einen auf einer Art von
Bahre, ohne Sarg, in bloßem Hemde, ohne alle andre Begleitung, als die seiner
Träger. Da diese einen Stein aufgehoben hatten, welcher ein großes Loch be¬
deckte, nahmen sie ihm sein Hemde, faßten ihn bei den Füßen und warfen ihn,
ganz nackend, den Kopf voraus, in dieses abscheuliche Loch, welches ein so tiefer
Keller war, daß der fallende Körper ein so großes Geräusch verursachte, dnß
ich an dem Orte, wo ich mich befand, es genau hörte. Als ich mein Entsetzen
hierüber meinen Gefährten bezeugt hatte, welche Papisten waren, sagten sie mir,
indem sie sich rühmten, daß, wenn ich stürbe, die Ehre, dorthin gebracht zu werde»,
mir nicht erzeigt werden würde, weil ich ein Ketzer sei, sondern daß ich in einer
Bastei mein Grab finden würde. Ich bezeugte ihnen, daß dieser letztere Ort
mir besser gefalle, als jenes stinkende Loch.

Unser Schiffsprediger, ein Priester aus der Provence, aber dennoch ein
guter Mann, kam zuweilen, um die Kranken zu besuchen, auf unser Zimmer.
Eines Tages näherte er sich meinem Bette und nachdem er sich nach meiner
Gesundheit erkundigt hatte, fragte er mich, ob ich in meiner Religion sterben
wolle. Als ich ihm meinen Willen gesagt hatte, feuerte er mich an, einen guten
Gebrauch von meinen letzten Augenblicken zu machen. Ich dankte ihm dafür
und bezeigte ihm zugleich meine Unruhe darüber, daß, da er den Kranken jetzt
das heilige Abendmahl reichen werde, ich fürchte, man möge mir eine Schmach
anthun, indem man mich zu irgend einer Handlung gegen mein Gewissen nöthigte.
„Nein," sagte er, „bleiben Sie ruhig in Ihrem Bette, und man wird Ihnen nicht
das geringste sagen." Es kam ebenso, wie er vorhergesagt hatte. Nachdem ich


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157699/123>, abgerufen am 23.07.2024.