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Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Zweites Quartal.

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Aus den Denkwürdigkeiten Jakob Gstiennes.

sich aller Punkte bemächtigt hatten, so marschirten wir in Schlachtordnung in
die Stadt, deren Einwohner uns mit vielen Höflichkeiten empfingen, wodurch
sie uns zu einer gelinden Behandlung bewegen wollten. Diese Eroberung kostete
uns nur zwei Stunden Zeit und ungefähr 8--10 Menschen. Wir wurden hier
gut behandelt und fanden Lebensmittel in Ueberfluß, Als die Breschen wieder
hergestellt waren, ließ man Garnison darin zurück und schiffte die übrige Mann¬
schaft nach Messina ein, wo man nach Verlauf einiger Tage glücklich, jedoch
mit einer großen Anzahl Kranker ankam. Unser Schiff allein hatte davon am
wenigsten und doch über 30 am Bord, worunter auch ich mich befand. Man
bestimmte ein großes schönes Haus für die Kranken, jedes Schiff erhielt seine
eigene Stube, Ich wurde durch ein Paar meiner Kameraden dahin geführt,
mit vieler Mühe, besonders bei Ersteigung einer schönen Treppe von mehr als
50 Stufen, ehe wir in unsrer Stube ankamen. Da ich müde und schwach war,
so brachte man mich gleich in ein Bett und in Tücher, worin so eben Einer ge¬
storben war, aber ich durfte in meiner Lage weder Widerwillen noch Delikatesse
zeigen. Mehrere meiner Gefährten waren schon in ebenso schmutzige und schlechte
Betten wie das meinige gebracht. Da es schon spät war, so schloß man uns,
um unser Unglück voll zu machen, ein, ohne Aufsicht, ohne Licht und ohne
Wasser, um unseren brennenden Ficberdurst zu löschen. Wir durchlebten die
schrecklichste Nacht, die sich denken läßt. Am andern Tag gab man uns einen
Krankenwärter. Der Wundarzt untersuchte uns, verordnete Arznei und ließ uns
zu trinken geben. Da wir aber bösartiges Fleckfieber mit Verstandsverrückung
hatten, so starben viele. Andre wollten sich aus den Fenstern oder die Treppe
hinunterstürzen, so daß unsre Aufwärter viel Mühe hatten, sie überall zurück¬
zuhalten. Zu Mittag fand man viele so steif wie Holz unter ihren Betten
liegen, wo sie aus den Fliesen, womit unsre Stube belegt war, Kühlung gesucht
hatten. Endlich war einem Theile von Würmern die Brust durchbohrt. Ob¬
gleich ich sterbenskrank war, so bewahrte ich doch immer ein gänzliches Bewußt¬
sein, und da ich gefühlt hatte, daß mich etwas im Magen stach, so benachrichtigte
ich frühzeitig den Wundarzt davon, welcher mir einen Trank verordnete, der mir
die ganze Nacht keine Ruhe ließ. Am Morgen fühlte ich etwas im Halse, welches
ich mit den Fingern suchte, und ich hatte den Muth selbst, einen todten arm¬
langen, mehr als Federkiel dicken Wurm herauszuziehen. Ich zeigte ihn dem
Wundärzte, welcher darüber erstaunte. Dies hat mich nächst Gott davon er¬
rettet, daß mir wie so vielen andern die Brust durchlöchert wurde.

Hierdurch fing meine Krankheit an sich zu verringern, jedoch gebrauchte ich
wohl noch sechs Wochen, ehe ich ausgehen konnte. Urtheilt, meine lieben Kinder,
welche schmerzlichen Betrachtungen ich während einer so langen und traurigen


Aus den Denkwürdigkeiten Jakob Gstiennes.

sich aller Punkte bemächtigt hatten, so marschirten wir in Schlachtordnung in
die Stadt, deren Einwohner uns mit vielen Höflichkeiten empfingen, wodurch
sie uns zu einer gelinden Behandlung bewegen wollten. Diese Eroberung kostete
uns nur zwei Stunden Zeit und ungefähr 8—10 Menschen. Wir wurden hier
gut behandelt und fanden Lebensmittel in Ueberfluß, Als die Breschen wieder
hergestellt waren, ließ man Garnison darin zurück und schiffte die übrige Mann¬
schaft nach Messina ein, wo man nach Verlauf einiger Tage glücklich, jedoch
mit einer großen Anzahl Kranker ankam. Unser Schiff allein hatte davon am
wenigsten und doch über 30 am Bord, worunter auch ich mich befand. Man
bestimmte ein großes schönes Haus für die Kranken, jedes Schiff erhielt seine
eigene Stube, Ich wurde durch ein Paar meiner Kameraden dahin geführt,
mit vieler Mühe, besonders bei Ersteigung einer schönen Treppe von mehr als
50 Stufen, ehe wir in unsrer Stube ankamen. Da ich müde und schwach war,
so brachte man mich gleich in ein Bett und in Tücher, worin so eben Einer ge¬
storben war, aber ich durfte in meiner Lage weder Widerwillen noch Delikatesse
zeigen. Mehrere meiner Gefährten waren schon in ebenso schmutzige und schlechte
Betten wie das meinige gebracht. Da es schon spät war, so schloß man uns,
um unser Unglück voll zu machen, ein, ohne Aufsicht, ohne Licht und ohne
Wasser, um unseren brennenden Ficberdurst zu löschen. Wir durchlebten die
schrecklichste Nacht, die sich denken läßt. Am andern Tag gab man uns einen
Krankenwärter. Der Wundarzt untersuchte uns, verordnete Arznei und ließ uns
zu trinken geben. Da wir aber bösartiges Fleckfieber mit Verstandsverrückung
hatten, so starben viele. Andre wollten sich aus den Fenstern oder die Treppe
hinunterstürzen, so daß unsre Aufwärter viel Mühe hatten, sie überall zurück¬
zuhalten. Zu Mittag fand man viele so steif wie Holz unter ihren Betten
liegen, wo sie aus den Fliesen, womit unsre Stube belegt war, Kühlung gesucht
hatten. Endlich war einem Theile von Würmern die Brust durchbohrt. Ob¬
gleich ich sterbenskrank war, so bewahrte ich doch immer ein gänzliches Bewußt¬
sein, und da ich gefühlt hatte, daß mich etwas im Magen stach, so benachrichtigte
ich frühzeitig den Wundarzt davon, welcher mir einen Trank verordnete, der mir
die ganze Nacht keine Ruhe ließ. Am Morgen fühlte ich etwas im Halse, welches
ich mit den Fingern suchte, und ich hatte den Muth selbst, einen todten arm¬
langen, mehr als Federkiel dicken Wurm herauszuziehen. Ich zeigte ihn dem
Wundärzte, welcher darüber erstaunte. Dies hat mich nächst Gott davon er¬
rettet, daß mir wie so vielen andern die Brust durchlöchert wurde.

Hierdurch fing meine Krankheit an sich zu verringern, jedoch gebrauchte ich
wohl noch sechs Wochen, ehe ich ausgehen konnte. Urtheilt, meine lieben Kinder,
welche schmerzlichen Betrachtungen ich während einer so langen und traurigen


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[0122] Aus den Denkwürdigkeiten Jakob Gstiennes. sich aller Punkte bemächtigt hatten, so marschirten wir in Schlachtordnung in die Stadt, deren Einwohner uns mit vielen Höflichkeiten empfingen, wodurch sie uns zu einer gelinden Behandlung bewegen wollten. Diese Eroberung kostete uns nur zwei Stunden Zeit und ungefähr 8—10 Menschen. Wir wurden hier gut behandelt und fanden Lebensmittel in Ueberfluß, Als die Breschen wieder hergestellt waren, ließ man Garnison darin zurück und schiffte die übrige Mann¬ schaft nach Messina ein, wo man nach Verlauf einiger Tage glücklich, jedoch mit einer großen Anzahl Kranker ankam. Unser Schiff allein hatte davon am wenigsten und doch über 30 am Bord, worunter auch ich mich befand. Man bestimmte ein großes schönes Haus für die Kranken, jedes Schiff erhielt seine eigene Stube, Ich wurde durch ein Paar meiner Kameraden dahin geführt, mit vieler Mühe, besonders bei Ersteigung einer schönen Treppe von mehr als 50 Stufen, ehe wir in unsrer Stube ankamen. Da ich müde und schwach war, so brachte man mich gleich in ein Bett und in Tücher, worin so eben Einer ge¬ storben war, aber ich durfte in meiner Lage weder Widerwillen noch Delikatesse zeigen. Mehrere meiner Gefährten waren schon in ebenso schmutzige und schlechte Betten wie das meinige gebracht. Da es schon spät war, so schloß man uns, um unser Unglück voll zu machen, ein, ohne Aufsicht, ohne Licht und ohne Wasser, um unseren brennenden Ficberdurst zu löschen. Wir durchlebten die schrecklichste Nacht, die sich denken läßt. Am andern Tag gab man uns einen Krankenwärter. Der Wundarzt untersuchte uns, verordnete Arznei und ließ uns zu trinken geben. Da wir aber bösartiges Fleckfieber mit Verstandsverrückung hatten, so starben viele. Andre wollten sich aus den Fenstern oder die Treppe hinunterstürzen, so daß unsre Aufwärter viel Mühe hatten, sie überall zurück¬ zuhalten. Zu Mittag fand man viele so steif wie Holz unter ihren Betten liegen, wo sie aus den Fliesen, womit unsre Stube belegt war, Kühlung gesucht hatten. Endlich war einem Theile von Würmern die Brust durchbohrt. Ob¬ gleich ich sterbenskrank war, so bewahrte ich doch immer ein gänzliches Bewußt¬ sein, und da ich gefühlt hatte, daß mich etwas im Magen stach, so benachrichtigte ich frühzeitig den Wundarzt davon, welcher mir einen Trank verordnete, der mir die ganze Nacht keine Ruhe ließ. Am Morgen fühlte ich etwas im Halse, welches ich mit den Fingern suchte, und ich hatte den Muth selbst, einen todten arm¬ langen, mehr als Federkiel dicken Wurm herauszuziehen. Ich zeigte ihn dem Wundärzte, welcher darüber erstaunte. Dies hat mich nächst Gott davon er¬ rettet, daß mir wie so vielen andern die Brust durchlöchert wurde. Hierdurch fing meine Krankheit an sich zu verringern, jedoch gebrauchte ich wohl noch sechs Wochen, ehe ich ausgehen konnte. Urtheilt, meine lieben Kinder, welche schmerzlichen Betrachtungen ich während einer so langen und traurigen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157699/122>, abgerufen am 23.07.2024.