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Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Zweites Quartal.

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Aus den Denkwürdigkeiten Jakob Lstiennes,

"verhängnißvolle Hang zu Vergnügungen und Ausschweifungen" zu allerhand
Aergerniß, und schon am Ende 1674 finden wir ihn auf der Landstraße, Ohne
Lebewohl zu sagen, hat er den Eltern zornig den Rücken gekehrt. In Rauch
nimmt ihm ein Offizier den Rest seiner Baarschaft ab, Pferd, Mantel und
Pistolen werdeu verkauft, damit der Wirth befriedigt werden kann. Ein zielloses
Wanderleben beginnt. Wir treffen Estienne meist im östlichen Frankreich. Am
längste": hielt er sich in Dijon und Lyon auf. Am letztern Orte fand er bei
einem wackern katholischen Meister Arbeit, aber wiederum riß "der unglückliche
Hang zu Vergnügungen" ihn fort, "einige Thaten zu begehen, die dem guten
Herrn mißfielen und ihn nöthigten, ihm den Abschied zu geben." In eigenthüm¬
licher Weise wußte sich Estienne zu trösten. "Ich war von Schmerz durch¬
drungen," so schreibt er, "mir dieses Unglück durch meine Schuld zugezogen zu
haben; aber wenn ich über die Wege der Vorsehung nachdachte, so konnte, was
damals mir ein Unglück erschien, ein Glück für mich sein wegen der Folgen, die
vielleicht eingetreten wären, wenn ich dort geblieben wäre. Dieser brave Mann
hatte nämlich Vermögen und nur zwei Kinder, einen Sohn auf der Schule und
eine Tochter von 16 oder 17 Jahren. Ich wurde von der ganzen Familie ge¬
liebt. Wer weiß also, ob ich mich nicht, wenn dieser Zwist sich nicht zugetragen
hätte, würde bereden haben lassen, um dieses Mädchens willen meine Religion
zu ändern. Ich habe also dieses scheinbare Uebel immer als ein wesentliches
Glück für meine Seele angesehen."

Er begab sich nach Nix. Endlich finden wir ihn in Marseille. Hier ließ
er sich für die Flotte anwerben, welche bestimmt war, die französischen Besitzungen
auf Sieilien, welche man seit der Empörung der mit der spanischen Herrschaft
unzufriednen Insel erworben hatte, gegen die spanisch-holländische Flotte unter
Rüster zu schützen. Was er bei dieser Gelegenheit erlebte, wird man in seiner
eignen Darstellung lesen.

Nach Toulon zurückgekehrt, schrieb Estieune einen reuevollen Brief, welchem
er eine Beschreibung seiner kriegerischen Erlebnisse beilegte, an den Vater, ihn
um Verzeihung für seine Fehltritte bittend. Der Vater gewährte sie ihm liebevoll
und gab ihm sogar die Mittel noch eine Reise durch Frankreich zu machen.
Estienne besuchte daher noch Tarascon, Montpellier, Bordeaux, Amboise, Blois,
Orleans. Nach dreijähriger Abwesenheit traf er mit dem Vater in Paris zu¬
sammen, um mit ihm gemeinschaftlich die Heimreise nach Metz anzutreten.

Hier trat er in das Geschäft des Vaters ein und vermählte sich am 15. Sep¬
tember 1680 mit der Tochter des verstorbnen Samuel Gremecieux. Die Be¬
drückungen des reformirten Glnubeus zwangen ihn aber 1685 mit seiner Familie
zur Flucht nach Deutschland. Er ließ sich in Heidelberg als Universitätsbuch-


Aus den Denkwürdigkeiten Jakob Lstiennes,

„verhängnißvolle Hang zu Vergnügungen und Ausschweifungen" zu allerhand
Aergerniß, und schon am Ende 1674 finden wir ihn auf der Landstraße, Ohne
Lebewohl zu sagen, hat er den Eltern zornig den Rücken gekehrt. In Rauch
nimmt ihm ein Offizier den Rest seiner Baarschaft ab, Pferd, Mantel und
Pistolen werdeu verkauft, damit der Wirth befriedigt werden kann. Ein zielloses
Wanderleben beginnt. Wir treffen Estienne meist im östlichen Frankreich. Am
längste«: hielt er sich in Dijon und Lyon auf. Am letztern Orte fand er bei
einem wackern katholischen Meister Arbeit, aber wiederum riß „der unglückliche
Hang zu Vergnügungen" ihn fort, „einige Thaten zu begehen, die dem guten
Herrn mißfielen und ihn nöthigten, ihm den Abschied zu geben." In eigenthüm¬
licher Weise wußte sich Estienne zu trösten. „Ich war von Schmerz durch¬
drungen," so schreibt er, „mir dieses Unglück durch meine Schuld zugezogen zu
haben; aber wenn ich über die Wege der Vorsehung nachdachte, so konnte, was
damals mir ein Unglück erschien, ein Glück für mich sein wegen der Folgen, die
vielleicht eingetreten wären, wenn ich dort geblieben wäre. Dieser brave Mann
hatte nämlich Vermögen und nur zwei Kinder, einen Sohn auf der Schule und
eine Tochter von 16 oder 17 Jahren. Ich wurde von der ganzen Familie ge¬
liebt. Wer weiß also, ob ich mich nicht, wenn dieser Zwist sich nicht zugetragen
hätte, würde bereden haben lassen, um dieses Mädchens willen meine Religion
zu ändern. Ich habe also dieses scheinbare Uebel immer als ein wesentliches
Glück für meine Seele angesehen."

Er begab sich nach Nix. Endlich finden wir ihn in Marseille. Hier ließ
er sich für die Flotte anwerben, welche bestimmt war, die französischen Besitzungen
auf Sieilien, welche man seit der Empörung der mit der spanischen Herrschaft
unzufriednen Insel erworben hatte, gegen die spanisch-holländische Flotte unter
Rüster zu schützen. Was er bei dieser Gelegenheit erlebte, wird man in seiner
eignen Darstellung lesen.

Nach Toulon zurückgekehrt, schrieb Estieune einen reuevollen Brief, welchem
er eine Beschreibung seiner kriegerischen Erlebnisse beilegte, an den Vater, ihn
um Verzeihung für seine Fehltritte bittend. Der Vater gewährte sie ihm liebevoll
und gab ihm sogar die Mittel noch eine Reise durch Frankreich zu machen.
Estienne besuchte daher noch Tarascon, Montpellier, Bordeaux, Amboise, Blois,
Orleans. Nach dreijähriger Abwesenheit traf er mit dem Vater in Paris zu¬
sammen, um mit ihm gemeinschaftlich die Heimreise nach Metz anzutreten.

Hier trat er in das Geschäft des Vaters ein und vermählte sich am 15. Sep¬
tember 1680 mit der Tochter des verstorbnen Samuel Gremecieux. Die Be¬
drückungen des reformirten Glnubeus zwangen ihn aber 1685 mit seiner Familie
zur Flucht nach Deutschland. Er ließ sich in Heidelberg als Universitätsbuch-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157699/116>, abgerufen am 26.06.2024.