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Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Erstes Quartal.

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Goethe und Anstehen Stolberg,

Wie einer Ratte die Gift gefressen hat, sie läuft in alle Löcher, schlürpft alle
Feuchtigkeit, verschlingt alles Eßbaare das ihr in Weeg kommt und ihr innerstes
glüht von unauslöschlich verderblichem Feuer" oder "ich kann von dem Mäd-
gen nicht ab -- heut früh regt sichs wieder zu ihrem Vortheil in meinem
Herzen," wer hörte da nicht das Studentenlied aus Auerbachs Keller, und aus
der Gartenscene die Worte Fausts an Gretchen:


O schaudre nicht! Laß diesen Blick,
Laß diesen Händedruck dir sagen,
Was unaussprechlich ist

und wiederum Gretchens Worte an Faust:


Gesteh' ich's doch! Ich wußte nicht, was sich
Zu eurem Vortheil hier zu regen gleich bcgonnte.

Noch einer sehr merkwürdigen Stelle wollen wir gedenken. Es ist be¬
kannt, wie oft und in wie mannichfachen Wendungen Goethe im spätern Leben
den Gedanken ausgesprochen hat, daß er sein Lebenlang nicht davon habe ab¬
weichen können, dasjenige, was ihn erfreute oder quälte, in ein Bild, ein Ge¬
dicht zu verwandeln und darüber mit sich selbst abzuschließen, daß also alle
seine Dichtungen nur Bruchstücke einer großen Confession (Dichtung und Wahr¬
heit 7. Buch), daß sie alle durch mehr oder minder bedeutende Gelegenheit
aufgeregt, also recht eigentlich Gelegenheitsgedichte seien (Commentar zur "Harz¬
reise im Winter", Eckermann's Gespräche I, S. 54). Er wollte damit den
durchaus realistischen Ausgangspunkt seiner dichterischen Arbeiten bezeichnen,
wie denn auch Merck zu ihm gesagt haben soll: "Deine unablenkbare Richtung
ist, dem Wirklichen eine poetische Gestalt zu geben; die andern suchen das so¬
genannte Poetische, die Imagination zu verwirklichen, und das giebt nichts wie
dummes Zeug." Speciell vom "Werther" erzählt er selbst in "Dichtung und
Wahrheit", daß er sich nach der Niederschrift desselben "wie nach einer General¬
beichte wieder froh und frei und zu einem neuen Leben berechtigt" gefühlt habe.
Ganz ähnlich schreibt er nun aber schon im März 1775 an Auguste über die Lite¬
ratur, die sich an seinen "Werther" angehängt hatte, und vor allem über Nicolais
"Freuden des jungen Werthers": "Nimmt mirs doch nichts an meinem innern
Ganzen, rührt und rückts mich doch nicht in meinen Arbeiten, die immer nur
die aufbewahrten Freuden und Leiden meines Lebens sind." Ist es nicht höchst
wunderbar, hier schon den sechsundzwanzigjährigen mit demselben klaren Selbst¬
urtheil über seine dichterischen Erzeugnisse sprechen zu hören wie später den
sechzigjährigen?

Als Goethe Anfang November 1775 nach Weimar gegangen war, kam
der ohnehin etwas künstlich gepflegte Briefwechsel bald ins Stocken. Zu


Grenzboten I. 1881. 11
Goethe und Anstehen Stolberg,

Wie einer Ratte die Gift gefressen hat, sie läuft in alle Löcher, schlürpft alle
Feuchtigkeit, verschlingt alles Eßbaare das ihr in Weeg kommt und ihr innerstes
glüht von unauslöschlich verderblichem Feuer" oder „ich kann von dem Mäd-
gen nicht ab — heut früh regt sichs wieder zu ihrem Vortheil in meinem
Herzen," wer hörte da nicht das Studentenlied aus Auerbachs Keller, und aus
der Gartenscene die Worte Fausts an Gretchen:


O schaudre nicht! Laß diesen Blick,
Laß diesen Händedruck dir sagen,
Was unaussprechlich ist

und wiederum Gretchens Worte an Faust:


Gesteh' ich's doch! Ich wußte nicht, was sich
Zu eurem Vortheil hier zu regen gleich bcgonnte.

Noch einer sehr merkwürdigen Stelle wollen wir gedenken. Es ist be¬
kannt, wie oft und in wie mannichfachen Wendungen Goethe im spätern Leben
den Gedanken ausgesprochen hat, daß er sein Lebenlang nicht davon habe ab¬
weichen können, dasjenige, was ihn erfreute oder quälte, in ein Bild, ein Ge¬
dicht zu verwandeln und darüber mit sich selbst abzuschließen, daß also alle
seine Dichtungen nur Bruchstücke einer großen Confession (Dichtung und Wahr¬
heit 7. Buch), daß sie alle durch mehr oder minder bedeutende Gelegenheit
aufgeregt, also recht eigentlich Gelegenheitsgedichte seien (Commentar zur „Harz¬
reise im Winter", Eckermann's Gespräche I, S. 54). Er wollte damit den
durchaus realistischen Ausgangspunkt seiner dichterischen Arbeiten bezeichnen,
wie denn auch Merck zu ihm gesagt haben soll: „Deine unablenkbare Richtung
ist, dem Wirklichen eine poetische Gestalt zu geben; die andern suchen das so¬
genannte Poetische, die Imagination zu verwirklichen, und das giebt nichts wie
dummes Zeug." Speciell vom „Werther" erzählt er selbst in „Dichtung und
Wahrheit", daß er sich nach der Niederschrift desselben „wie nach einer General¬
beichte wieder froh und frei und zu einem neuen Leben berechtigt" gefühlt habe.
Ganz ähnlich schreibt er nun aber schon im März 1775 an Auguste über die Lite¬
ratur, die sich an seinen „Werther" angehängt hatte, und vor allem über Nicolais
„Freuden des jungen Werthers": „Nimmt mirs doch nichts an meinem innern
Ganzen, rührt und rückts mich doch nicht in meinen Arbeiten, die immer nur
die aufbewahrten Freuden und Leiden meines Lebens sind." Ist es nicht höchst
wunderbar, hier schon den sechsundzwanzigjährigen mit demselben klaren Selbst¬
urtheil über seine dichterischen Erzeugnisse sprechen zu hören wie später den
sechzigjährigen?

Als Goethe Anfang November 1775 nach Weimar gegangen war, kam
der ohnehin etwas künstlich gepflegte Briefwechsel bald ins Stocken. Zu


Grenzboten I. 1881. 11
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[0085] Goethe und Anstehen Stolberg, Wie einer Ratte die Gift gefressen hat, sie läuft in alle Löcher, schlürpft alle Feuchtigkeit, verschlingt alles Eßbaare das ihr in Weeg kommt und ihr innerstes glüht von unauslöschlich verderblichem Feuer" oder „ich kann von dem Mäd- gen nicht ab — heut früh regt sichs wieder zu ihrem Vortheil in meinem Herzen," wer hörte da nicht das Studentenlied aus Auerbachs Keller, und aus der Gartenscene die Worte Fausts an Gretchen: O schaudre nicht! Laß diesen Blick, Laß diesen Händedruck dir sagen, Was unaussprechlich ist und wiederum Gretchens Worte an Faust: Gesteh' ich's doch! Ich wußte nicht, was sich Zu eurem Vortheil hier zu regen gleich bcgonnte. Noch einer sehr merkwürdigen Stelle wollen wir gedenken. Es ist be¬ kannt, wie oft und in wie mannichfachen Wendungen Goethe im spätern Leben den Gedanken ausgesprochen hat, daß er sein Lebenlang nicht davon habe ab¬ weichen können, dasjenige, was ihn erfreute oder quälte, in ein Bild, ein Ge¬ dicht zu verwandeln und darüber mit sich selbst abzuschließen, daß also alle seine Dichtungen nur Bruchstücke einer großen Confession (Dichtung und Wahr¬ heit 7. Buch), daß sie alle durch mehr oder minder bedeutende Gelegenheit aufgeregt, also recht eigentlich Gelegenheitsgedichte seien (Commentar zur „Harz¬ reise im Winter", Eckermann's Gespräche I, S. 54). Er wollte damit den durchaus realistischen Ausgangspunkt seiner dichterischen Arbeiten bezeichnen, wie denn auch Merck zu ihm gesagt haben soll: „Deine unablenkbare Richtung ist, dem Wirklichen eine poetische Gestalt zu geben; die andern suchen das so¬ genannte Poetische, die Imagination zu verwirklichen, und das giebt nichts wie dummes Zeug." Speciell vom „Werther" erzählt er selbst in „Dichtung und Wahrheit", daß er sich nach der Niederschrift desselben „wie nach einer General¬ beichte wieder froh und frei und zu einem neuen Leben berechtigt" gefühlt habe. Ganz ähnlich schreibt er nun aber schon im März 1775 an Auguste über die Lite¬ ratur, die sich an seinen „Werther" angehängt hatte, und vor allem über Nicolais „Freuden des jungen Werthers": „Nimmt mirs doch nichts an meinem innern Ganzen, rührt und rückts mich doch nicht in meinen Arbeiten, die immer nur die aufbewahrten Freuden und Leiden meines Lebens sind." Ist es nicht höchst wunderbar, hier schon den sechsundzwanzigjährigen mit demselben klaren Selbst¬ urtheil über seine dichterischen Erzeugnisse sprechen zu hören wie später den sechzigjährigen? Als Goethe Anfang November 1775 nach Weimar gegangen war, kam der ohnehin etwas künstlich gepflegte Briefwechsel bald ins Stocken. Zu Grenzboten I. 1881. 11

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157697/85>, abgerufen am 27.12.2024.