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Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Erstes Quartal.

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dem letzten Briefe an Gustchen aus Frankfurt, den er am 20. Septbr. 1775
begonnen, am 8. October abgebrochen hat, macht er am 22. November in
Weimar den Zusatz: "Ich erwarte deine Brüder, o Gustgen! was ist die
Zeit alles mit mir vorgegangen. Schon fast vierzehn Tage hier, im Treiben
und Weben des Hoff. Adieu bald mehr. Vereint mit unsern Brüdern! Dies
Blättel sollst indess haben." Aber das "Blättel" wurde auch jetzt noch nicht
abgesandt, sondern erst Anfang December, nachdem die beiden Stolberg in
Weimar angelangt waren. Daraus während des lustigen Treibens der ersten
Weimarer Monate nicht eine Zeile. Anfang Februar 1776, während ihn die
Frage beunruhigte, ob er in Weimar bleiben oder wieder gehen sollte, während
zugleich sein Herz in leidenschaftlicher Liebe zu Frau von Stein entbrannte,
mochte Gustchen um eine Nachricht gebeten haben. Da tröstet er sie am 11.
Februar mit den zwei Zeilen: "Könntest du mein Schweigen verstehen! Liebstes
Gustgen! -- Ich kann, ich kann nichts sagen!" Am 10. April, nachdem er die
Nachricht erhalten, daß sie schwer krank, dem Tode nahe gewesen, aber nun
gerettet sei, sendet er ihr wieder ein paar Worte der Theilnahme. Endlich
entschließt er sich am 17. Mai, nachdem Tags zuvor abermals eine Mahnung
Gustchens, etwas von sich hören zu lassen, eingetroffen war, zu einem Brieftag¬
buche, das er bis zum 24. Mai weiterspinnt und worin er, ähnlich wie
früher in Frankfurt, alle seine Erlebnisse während dieser acht Tage, auch
die gleichgiltigsten, zu Papiere bringt. Dieses Tagebuch gewährt mit seinem
Detail liebenswürdige Einblicke in das Glück, das er genoß, als er im Früh¬
ling 1776 sich in dem vom Herzog ihm überlassenen Gartenhäuschen einrichten und
dabei den traulichsten, ungezwungensten Verkehr mit der herzoglichen Familie
pflegen konnte, berichtet freilich auch wieder so wichtige Dinge wie am
18. Mai: "ich hab ein Stück kalten Braten gessen und mit meinem Philipp Heu
Dieners von seiner und meiner Welt geschwäzzt, war ruhig und bin's und hoffe
gut zu schlaffen" oder am 21. Mai: "früh 6 aufgestanden herrlicher kühler
Sonnenmorgen. Arbeiter im Garten. Ein Jäger bringt mir einen lungen
Fuchs" -- Aufzeichnungen, bei denen offenbar wieder die Adresse manchmal
ganz aus den Augen verloren ist.

Prof. Arndt möchte, indem er eine von Hermann Grimm hingeworfene Idee
weiter ausführt, dieses Weimarer Brieftagebuch mit dem störenden Zwischenfall
in Verbindung bringen, den Anfang Mai 1776 die Einmischung Klopstocks
in Goethes Weimarer Existenz herbeigeführt hatte. Klopstock hatte, verleitet
durch den thörichten Klatsch, der über das Weimarer Hofleben und über die
sittlichen Gefahren, in denen der Herzog und Goethe schweben sollten, zu ihm
gedrungen war, am 8. Mai jenen gutgemeinten, aber doch recht unpassend
zudringlichen Ermahnungsbrief an Goethe geschrieben, auf welchen dieser ihn:


dem letzten Briefe an Gustchen aus Frankfurt, den er am 20. Septbr. 1775
begonnen, am 8. October abgebrochen hat, macht er am 22. November in
Weimar den Zusatz: „Ich erwarte deine Brüder, o Gustgen! was ist die
Zeit alles mit mir vorgegangen. Schon fast vierzehn Tage hier, im Treiben
und Weben des Hoff. Adieu bald mehr. Vereint mit unsern Brüdern! Dies
Blättel sollst indess haben." Aber das „Blättel" wurde auch jetzt noch nicht
abgesandt, sondern erst Anfang December, nachdem die beiden Stolberg in
Weimar angelangt waren. Daraus während des lustigen Treibens der ersten
Weimarer Monate nicht eine Zeile. Anfang Februar 1776, während ihn die
Frage beunruhigte, ob er in Weimar bleiben oder wieder gehen sollte, während
zugleich sein Herz in leidenschaftlicher Liebe zu Frau von Stein entbrannte,
mochte Gustchen um eine Nachricht gebeten haben. Da tröstet er sie am 11.
Februar mit den zwei Zeilen: „Könntest du mein Schweigen verstehen! Liebstes
Gustgen! — Ich kann, ich kann nichts sagen!" Am 10. April, nachdem er die
Nachricht erhalten, daß sie schwer krank, dem Tode nahe gewesen, aber nun
gerettet sei, sendet er ihr wieder ein paar Worte der Theilnahme. Endlich
entschließt er sich am 17. Mai, nachdem Tags zuvor abermals eine Mahnung
Gustchens, etwas von sich hören zu lassen, eingetroffen war, zu einem Brieftag¬
buche, das er bis zum 24. Mai weiterspinnt und worin er, ähnlich wie
früher in Frankfurt, alle seine Erlebnisse während dieser acht Tage, auch
die gleichgiltigsten, zu Papiere bringt. Dieses Tagebuch gewährt mit seinem
Detail liebenswürdige Einblicke in das Glück, das er genoß, als er im Früh¬
ling 1776 sich in dem vom Herzog ihm überlassenen Gartenhäuschen einrichten und
dabei den traulichsten, ungezwungensten Verkehr mit der herzoglichen Familie
pflegen konnte, berichtet freilich auch wieder so wichtige Dinge wie am
18. Mai: „ich hab ein Stück kalten Braten gessen und mit meinem Philipp Heu
Dieners von seiner und meiner Welt geschwäzzt, war ruhig und bin's und hoffe
gut zu schlaffen" oder am 21. Mai: „früh 6 aufgestanden herrlicher kühler
Sonnenmorgen. Arbeiter im Garten. Ein Jäger bringt mir einen lungen
Fuchs" — Aufzeichnungen, bei denen offenbar wieder die Adresse manchmal
ganz aus den Augen verloren ist.

Prof. Arndt möchte, indem er eine von Hermann Grimm hingeworfene Idee
weiter ausführt, dieses Weimarer Brieftagebuch mit dem störenden Zwischenfall
in Verbindung bringen, den Anfang Mai 1776 die Einmischung Klopstocks
in Goethes Weimarer Existenz herbeigeführt hatte. Klopstock hatte, verleitet
durch den thörichten Klatsch, der über das Weimarer Hofleben und über die
sittlichen Gefahren, in denen der Herzog und Goethe schweben sollten, zu ihm
gedrungen war, am 8. Mai jenen gutgemeinten, aber doch recht unpassend
zudringlichen Ermahnungsbrief an Goethe geschrieben, auf welchen dieser ihn:


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[0086] dem letzten Briefe an Gustchen aus Frankfurt, den er am 20. Septbr. 1775 begonnen, am 8. October abgebrochen hat, macht er am 22. November in Weimar den Zusatz: „Ich erwarte deine Brüder, o Gustgen! was ist die Zeit alles mit mir vorgegangen. Schon fast vierzehn Tage hier, im Treiben und Weben des Hoff. Adieu bald mehr. Vereint mit unsern Brüdern! Dies Blättel sollst indess haben." Aber das „Blättel" wurde auch jetzt noch nicht abgesandt, sondern erst Anfang December, nachdem die beiden Stolberg in Weimar angelangt waren. Daraus während des lustigen Treibens der ersten Weimarer Monate nicht eine Zeile. Anfang Februar 1776, während ihn die Frage beunruhigte, ob er in Weimar bleiben oder wieder gehen sollte, während zugleich sein Herz in leidenschaftlicher Liebe zu Frau von Stein entbrannte, mochte Gustchen um eine Nachricht gebeten haben. Da tröstet er sie am 11. Februar mit den zwei Zeilen: „Könntest du mein Schweigen verstehen! Liebstes Gustgen! — Ich kann, ich kann nichts sagen!" Am 10. April, nachdem er die Nachricht erhalten, daß sie schwer krank, dem Tode nahe gewesen, aber nun gerettet sei, sendet er ihr wieder ein paar Worte der Theilnahme. Endlich entschließt er sich am 17. Mai, nachdem Tags zuvor abermals eine Mahnung Gustchens, etwas von sich hören zu lassen, eingetroffen war, zu einem Brieftag¬ buche, das er bis zum 24. Mai weiterspinnt und worin er, ähnlich wie früher in Frankfurt, alle seine Erlebnisse während dieser acht Tage, auch die gleichgiltigsten, zu Papiere bringt. Dieses Tagebuch gewährt mit seinem Detail liebenswürdige Einblicke in das Glück, das er genoß, als er im Früh¬ ling 1776 sich in dem vom Herzog ihm überlassenen Gartenhäuschen einrichten und dabei den traulichsten, ungezwungensten Verkehr mit der herzoglichen Familie pflegen konnte, berichtet freilich auch wieder so wichtige Dinge wie am 18. Mai: „ich hab ein Stück kalten Braten gessen und mit meinem Philipp Heu Dieners von seiner und meiner Welt geschwäzzt, war ruhig und bin's und hoffe gut zu schlaffen" oder am 21. Mai: „früh 6 aufgestanden herrlicher kühler Sonnenmorgen. Arbeiter im Garten. Ein Jäger bringt mir einen lungen Fuchs" — Aufzeichnungen, bei denen offenbar wieder die Adresse manchmal ganz aus den Augen verloren ist. Prof. Arndt möchte, indem er eine von Hermann Grimm hingeworfene Idee weiter ausführt, dieses Weimarer Brieftagebuch mit dem störenden Zwischenfall in Verbindung bringen, den Anfang Mai 1776 die Einmischung Klopstocks in Goethes Weimarer Existenz herbeigeführt hatte. Klopstock hatte, verleitet durch den thörichten Klatsch, der über das Weimarer Hofleben und über die sittlichen Gefahren, in denen der Herzog und Goethe schweben sollten, zu ihm gedrungen war, am 8. Mai jenen gutgemeinten, aber doch recht unpassend zudringlichen Ermahnungsbrief an Goethe geschrieben, auf welchen dieser ihn:

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157697/86>, abgerufen am 27.12.2024.