Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Erstes Quartal.Sprachliche Neubildungen. lich eine Anzahl von Wörtern übrig, bei denen uns kein rechter Grund ersichtlich Sprachliche Neubildungen. lich eine Anzahl von Wörtern übrig, bei denen uns kein rechter Grund ersichtlich <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0578" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/149562"/> <fw type="header" place="top"> Sprachliche Neubildungen.</fw><lb/> <p xml:id="ID_1620" prev="#ID_1619" next="#ID_1621"> lich eine Anzahl von Wörtern übrig, bei denen uns kein rechter Grund ersichtlich<lb/> ist, warum sie nicht weitergebraucht worden sind, bei denen wir uns also damit be¬<lb/> gnügen müssen anzunehmen, daß sie eben zu irgend einer Zeit dem Sprachgefühl<lb/> anfingen etwas veraltet und zopfig zu klingen, wie Denkungsnrt, Widerspiel,<lb/> zeitverwandt — bei den meisten können wir deutlich nachweisen, daß die Neu¬<lb/> bildung aus irgend einem der angeführten Gründe wünschenswert!) erschienen ist.<lb/> Was von den Verdeutschungsvorschlägen Philipps von Zehen und Campes Eingang<lb/> gefunden hat, darf als glückliche Bereicherung unsers Wortschatzes angesehen werden.<lb/> Partieipialformen wie das Lessingsche ausdrückend und widersprechend haben<lb/> jedenfalls mit der Zeit matt und inhaltslos geklungen, so daß das Bedürfniß ent¬<lb/> stand, sie durch ausdrucksvoll und widerspruchsvoll zu ersetzen. Denselben<lb/> Vorgang können wir ja auch an andern Participien gewahren. Goethe schreibt<lb/> unzähligemal bedeutend, wo wir jetzt bedeutungsvoll sagen würden. Und<lb/> wie abgenutzt ist unser reizend! Es ist so bis zum Ueberdruß gebraucht, daß<lb/> man es kaum noch aussprechen kann. Neuerdings hat man sich denn auch hier<lb/> damit geholfen, daß man, um den ursprünglichen Sinn wieder auszudrücken, zu<lb/> reizvoll seine Zuflucht genommen hat. Andre der oben genannten Wörter<lb/> haben ihre Bedeutung so ausschließlich nach einer bestimmten Richtung hin ver¬<lb/> schoben, daß sie aus diesem Grunde an den betreffenden Stellen bei Lessing jetzt<lb/> durch andre Formen ersetzt werden müßten. Hierher gehören Besorgung, Ver¬<lb/> stoßung, witzig, geringschätzig, rühren. Wir brauchen alle diese Wörter<lb/> noch heute, aber in anderm Sinne, als Lessing sie brauchte. Wollen wir das<lb/> ausdrücken, was Lessing damit ausdrückte, so müssen wir sagen: Besorgniß,<lb/> Verstoß, geistreich, unbedeutend, Eindruck machen. In den erwähnten<lb/> pessimistischen Zug sind z.B. hineingerathen: Ausschweifung, unordentlich,<lb/> unanständig. Um den Sinn, den diese Worte noch im vorigen Jahrhundert<lb/> hatten, wiederzugeben, müssen wir jetzt zu Abschweifung, ungeordnet, un¬<lb/> passend greifen. Ein classisches Beispiel endlich einer sprachlichen Neuschöpfung,<lb/> die einem allgemeinen Bedürfniß entgegenkam, eine Art erlösender sprachlicher That<lb/> war das Lessingsche empfindsam. Die warme Religiosität, das lebendige Natur¬<lb/> gefühl, der Cultus schwärmerischer Liebe und Freundschaft, der schon mit Klopstock<lb/> Ende der vierziger Jahre des vorigen Jahrhunderts beginnt, erreichte Ende der<lb/> sechziger nud Anfang der siebziger Jahre einen Grad von Stärke, Spannung<lb/> und schließlich Ueberspannung, der etwas völlig neues war. Die Sache war<lb/> da, alle Welt, vor allem die Jugend, war davon ergriffen, aber es fehlte das<lb/> Wort dafür. Lessing, der große Sprachmeister, schuf das Wort. Er schuf<lb/> es, unberührt von der Empfindsamkeit der Zeit wie er geblieben war, aus<lb/> purer Reflexion, und doch mit so genialen Griff, daß niemand sich des Ein-</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0578]
Sprachliche Neubildungen.
lich eine Anzahl von Wörtern übrig, bei denen uns kein rechter Grund ersichtlich
ist, warum sie nicht weitergebraucht worden sind, bei denen wir uns also damit be¬
gnügen müssen anzunehmen, daß sie eben zu irgend einer Zeit dem Sprachgefühl
anfingen etwas veraltet und zopfig zu klingen, wie Denkungsnrt, Widerspiel,
zeitverwandt — bei den meisten können wir deutlich nachweisen, daß die Neu¬
bildung aus irgend einem der angeführten Gründe wünschenswert!) erschienen ist.
Was von den Verdeutschungsvorschlägen Philipps von Zehen und Campes Eingang
gefunden hat, darf als glückliche Bereicherung unsers Wortschatzes angesehen werden.
Partieipialformen wie das Lessingsche ausdrückend und widersprechend haben
jedenfalls mit der Zeit matt und inhaltslos geklungen, so daß das Bedürfniß ent¬
stand, sie durch ausdrucksvoll und widerspruchsvoll zu ersetzen. Denselben
Vorgang können wir ja auch an andern Participien gewahren. Goethe schreibt
unzähligemal bedeutend, wo wir jetzt bedeutungsvoll sagen würden. Und
wie abgenutzt ist unser reizend! Es ist so bis zum Ueberdruß gebraucht, daß
man es kaum noch aussprechen kann. Neuerdings hat man sich denn auch hier
damit geholfen, daß man, um den ursprünglichen Sinn wieder auszudrücken, zu
reizvoll seine Zuflucht genommen hat. Andre der oben genannten Wörter
haben ihre Bedeutung so ausschließlich nach einer bestimmten Richtung hin ver¬
schoben, daß sie aus diesem Grunde an den betreffenden Stellen bei Lessing jetzt
durch andre Formen ersetzt werden müßten. Hierher gehören Besorgung, Ver¬
stoßung, witzig, geringschätzig, rühren. Wir brauchen alle diese Wörter
noch heute, aber in anderm Sinne, als Lessing sie brauchte. Wollen wir das
ausdrücken, was Lessing damit ausdrückte, so müssen wir sagen: Besorgniß,
Verstoß, geistreich, unbedeutend, Eindruck machen. In den erwähnten
pessimistischen Zug sind z.B. hineingerathen: Ausschweifung, unordentlich,
unanständig. Um den Sinn, den diese Worte noch im vorigen Jahrhundert
hatten, wiederzugeben, müssen wir jetzt zu Abschweifung, ungeordnet, un¬
passend greifen. Ein classisches Beispiel endlich einer sprachlichen Neuschöpfung,
die einem allgemeinen Bedürfniß entgegenkam, eine Art erlösender sprachlicher That
war das Lessingsche empfindsam. Die warme Religiosität, das lebendige Natur¬
gefühl, der Cultus schwärmerischer Liebe und Freundschaft, der schon mit Klopstock
Ende der vierziger Jahre des vorigen Jahrhunderts beginnt, erreichte Ende der
sechziger nud Anfang der siebziger Jahre einen Grad von Stärke, Spannung
und schließlich Ueberspannung, der etwas völlig neues war. Die Sache war
da, alle Welt, vor allem die Jugend, war davon ergriffen, aber es fehlte das
Wort dafür. Lessing, der große Sprachmeister, schuf das Wort. Er schuf
es, unberührt von der Empfindsamkeit der Zeit wie er geblieben war, aus
purer Reflexion, und doch mit so genialen Griff, daß niemand sich des Ein-
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