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Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Erstes Quartal.

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Der Kmsermord in Petersburg.

genüge, wenn wir sagen, daß er in Betreff der innern Angelegenheiten Ru߬
lands gute Intentionen hatte und theilweise ausführte, daß er die Befreiung
der Leibeignen durchsetzte, und daß er seinen Russen gewisse Zugeständnisse machte,
wie Geschwornengerichte, Selbstverwaltung und Aufhebung der Censur für die
hauptstädtische Presse, daß aber die nothwendige Ergänzung der erstgenannten
Maßregel, die Verleihung bleibenden persönlichen Grundeigentums an die be¬
freiten Bauern, unterblieb, daß die Geschwornen bei der sittlichen Unreife der
Bevölkerungsklasse, aus der sie zusammengesetzt waren, wiederholt Urtheilssprnche
fällten, die dem civilisirten Europa horrend erscheinen mußten, und daß die
Dumas, in deren Hände die Selbstverwaltung gelegt worden, sich gleichfalls
wenig bewährten, vielmehr vielfach durch Ungeschick, Gleichgiltigkeit gegen das
öffentliche Wohl und Selbstsucht Kassenleere und Verfall der gemeinnützen An¬
stalten herbeiführten. Hinzugefügt mag noch werden, daß der große Türkenkrieg,
vom Kaiser, wie es scheint, widerwillig unternommen, infolge falscher Politik
des diplomatischen Rathgebers der Krone -- beiläufig: zum Heile Europas --
nur einen halben Erfolg hatte, daß der Zar Alexander Nikolajewitsch trotz des
Glanzes und der Macht, die ihn als Beherrscher des größten monarchischen
Reiches der Erde umgaben, überhaupt, auch in seiner Familie, ein wenig glück¬
licher Fürst war, und daß dem Kaiser-Befreier mit fünf oder sechs Mordan¬
fällen und einem Leben, dessen Stunden täglich zwischen Leben und Tod schwebten,
gedankt wurde. In Betreff seines Charakters wird für Geschichtskundige hin¬
reichen, zu bemerken, daß sich an ihm im großen und ganzen die Beobachtung
wiederholte, daß Großväter oder Großonkel in den Enkeln oder Großneffen
wiederkommen. Alexander der Zweite war in wesentlichen Zügen seines inneren
Wesens, in seiner Politik und namentlich in seinem Verhalten zu uns, seinen
deutscheu Nachbarn, das Abbild Alexanders des Ersten.

Wichtiger als diese Betrachtung ist die Beantwortung der Fragen: Von
welcher Sinnesart ist der Nachfolger, der neue Zar Alexander der Dritte? Welche
Wege wird er in Bezug auf die innern Angelegenheiten seines Reiches einschlagen?
Welche Politik wird er nach Außen hin verfolgen? Und -- die oberste und
wichtigste dieser Fragen, die, um deretwillen das Ereigniß des 13. Mürz vor
allem zu denken giebt -- wie wird sich unter ihm die Haltung Rußlands zu
Deutschland gestalten?

Hinsichtlich des ersten Punktes vernahm man bisher von Seiten, die für
wohlunterrichtet und unparteiisch gelten, allerlei Lobwürdiges. Der Zarewitsch
war ein gcradsinniger, energischer Charakter, kenntnißreich, ein guter Haushalter,
in wohlgeordneten Vermögensverhältnissen, ein treuer Gatte -- lauter Eigen¬
schaften, die auf der Folie des Gegentheils, das sich in den hohen Sphären


Der Kmsermord in Petersburg.

genüge, wenn wir sagen, daß er in Betreff der innern Angelegenheiten Ru߬
lands gute Intentionen hatte und theilweise ausführte, daß er die Befreiung
der Leibeignen durchsetzte, und daß er seinen Russen gewisse Zugeständnisse machte,
wie Geschwornengerichte, Selbstverwaltung und Aufhebung der Censur für die
hauptstädtische Presse, daß aber die nothwendige Ergänzung der erstgenannten
Maßregel, die Verleihung bleibenden persönlichen Grundeigentums an die be¬
freiten Bauern, unterblieb, daß die Geschwornen bei der sittlichen Unreife der
Bevölkerungsklasse, aus der sie zusammengesetzt waren, wiederholt Urtheilssprnche
fällten, die dem civilisirten Europa horrend erscheinen mußten, und daß die
Dumas, in deren Hände die Selbstverwaltung gelegt worden, sich gleichfalls
wenig bewährten, vielmehr vielfach durch Ungeschick, Gleichgiltigkeit gegen das
öffentliche Wohl und Selbstsucht Kassenleere und Verfall der gemeinnützen An¬
stalten herbeiführten. Hinzugefügt mag noch werden, daß der große Türkenkrieg,
vom Kaiser, wie es scheint, widerwillig unternommen, infolge falscher Politik
des diplomatischen Rathgebers der Krone — beiläufig: zum Heile Europas —
nur einen halben Erfolg hatte, daß der Zar Alexander Nikolajewitsch trotz des
Glanzes und der Macht, die ihn als Beherrscher des größten monarchischen
Reiches der Erde umgaben, überhaupt, auch in seiner Familie, ein wenig glück¬
licher Fürst war, und daß dem Kaiser-Befreier mit fünf oder sechs Mordan¬
fällen und einem Leben, dessen Stunden täglich zwischen Leben und Tod schwebten,
gedankt wurde. In Betreff seines Charakters wird für Geschichtskundige hin¬
reichen, zu bemerken, daß sich an ihm im großen und ganzen die Beobachtung
wiederholte, daß Großväter oder Großonkel in den Enkeln oder Großneffen
wiederkommen. Alexander der Zweite war in wesentlichen Zügen seines inneren
Wesens, in seiner Politik und namentlich in seinem Verhalten zu uns, seinen
deutscheu Nachbarn, das Abbild Alexanders des Ersten.

Wichtiger als diese Betrachtung ist die Beantwortung der Fragen: Von
welcher Sinnesart ist der Nachfolger, der neue Zar Alexander der Dritte? Welche
Wege wird er in Bezug auf die innern Angelegenheiten seines Reiches einschlagen?
Welche Politik wird er nach Außen hin verfolgen? Und — die oberste und
wichtigste dieser Fragen, die, um deretwillen das Ereigniß des 13. Mürz vor
allem zu denken giebt — wie wird sich unter ihm die Haltung Rußlands zu
Deutschland gestalten?

Hinsichtlich des ersten Punktes vernahm man bisher von Seiten, die für
wohlunterrichtet und unparteiisch gelten, allerlei Lobwürdiges. Der Zarewitsch
war ein gcradsinniger, energischer Charakter, kenntnißreich, ein guter Haushalter,
in wohlgeordneten Vermögensverhältnissen, ein treuer Gatte — lauter Eigen¬
schaften, die auf der Folie des Gegentheils, das sich in den hohen Sphären


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[0543] Der Kmsermord in Petersburg. genüge, wenn wir sagen, daß er in Betreff der innern Angelegenheiten Ru߬ lands gute Intentionen hatte und theilweise ausführte, daß er die Befreiung der Leibeignen durchsetzte, und daß er seinen Russen gewisse Zugeständnisse machte, wie Geschwornengerichte, Selbstverwaltung und Aufhebung der Censur für die hauptstädtische Presse, daß aber die nothwendige Ergänzung der erstgenannten Maßregel, die Verleihung bleibenden persönlichen Grundeigentums an die be¬ freiten Bauern, unterblieb, daß die Geschwornen bei der sittlichen Unreife der Bevölkerungsklasse, aus der sie zusammengesetzt waren, wiederholt Urtheilssprnche fällten, die dem civilisirten Europa horrend erscheinen mußten, und daß die Dumas, in deren Hände die Selbstverwaltung gelegt worden, sich gleichfalls wenig bewährten, vielmehr vielfach durch Ungeschick, Gleichgiltigkeit gegen das öffentliche Wohl und Selbstsucht Kassenleere und Verfall der gemeinnützen An¬ stalten herbeiführten. Hinzugefügt mag noch werden, daß der große Türkenkrieg, vom Kaiser, wie es scheint, widerwillig unternommen, infolge falscher Politik des diplomatischen Rathgebers der Krone — beiläufig: zum Heile Europas — nur einen halben Erfolg hatte, daß der Zar Alexander Nikolajewitsch trotz des Glanzes und der Macht, die ihn als Beherrscher des größten monarchischen Reiches der Erde umgaben, überhaupt, auch in seiner Familie, ein wenig glück¬ licher Fürst war, und daß dem Kaiser-Befreier mit fünf oder sechs Mordan¬ fällen und einem Leben, dessen Stunden täglich zwischen Leben und Tod schwebten, gedankt wurde. In Betreff seines Charakters wird für Geschichtskundige hin¬ reichen, zu bemerken, daß sich an ihm im großen und ganzen die Beobachtung wiederholte, daß Großväter oder Großonkel in den Enkeln oder Großneffen wiederkommen. Alexander der Zweite war in wesentlichen Zügen seines inneren Wesens, in seiner Politik und namentlich in seinem Verhalten zu uns, seinen deutscheu Nachbarn, das Abbild Alexanders des Ersten. Wichtiger als diese Betrachtung ist die Beantwortung der Fragen: Von welcher Sinnesart ist der Nachfolger, der neue Zar Alexander der Dritte? Welche Wege wird er in Bezug auf die innern Angelegenheiten seines Reiches einschlagen? Welche Politik wird er nach Außen hin verfolgen? Und — die oberste und wichtigste dieser Fragen, die, um deretwillen das Ereigniß des 13. Mürz vor allem zu denken giebt — wie wird sich unter ihm die Haltung Rußlands zu Deutschland gestalten? Hinsichtlich des ersten Punktes vernahm man bisher von Seiten, die für wohlunterrichtet und unparteiisch gelten, allerlei Lobwürdiges. Der Zarewitsch war ein gcradsinniger, energischer Charakter, kenntnißreich, ein guter Haushalter, in wohlgeordneten Vermögensverhältnissen, ein treuer Gatte — lauter Eigen¬ schaften, die auf der Folie des Gegentheils, das sich in den hohen Sphären

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157697/543>, abgerufen am 27.12.2024.