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Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Erstes Quartal.

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unselige Nachnhmnngssncht auch wirklich originell angelegte Naturen verhinderte,
ihre Individualität künstlerisch zur Geltung zu bringen, und ein fertiger Kanon,
in welchen alles eingezwängt ward, der Freiheit des Schaffens entgegenstand.

Es liegt im Wesen einer mehr experimentirenden und eklektisch eopirenden
als aus innerm Drange heraus schaffenden Literaturepoche, daß von einer folge¬
richtigen Entwicklung der einzelnen Kunstgattungen, wie sie am deutlichsten das
Griechenthum erkennen läßt, keine Rede sein kann, sondern Epos, Lyrik und Drama
gleichzeitig neben einander cultivirt werden. Damit hängt es zusammen, daß allen
Mustern und Regeln zum Trotz, in deren vermeintlichen Vollbesitze man an die
Arbeit ging, oft gerade die wesentlichsten Grundbedingungen, wie wir sehen werden,
außer Acht gelassen wurden.

Wenn man die ungeheure Masse gelehrter Poesien überblickt, welche das
italienische Cinquecento überschwemmten, so sieht man weitaus den größten Raum
die Lyrik einnehmen, der bekanntlich von jeher die Neigung der Nation am meisten
entgegen kam. Die lyrischen Erzeugnisse, die sich in nationaler Sprache gaben,
bieten freilich zumeist ein wenig erfreuliches Bild dar. Die Nachahmung Petrarcas,
von der sich nur vereinzelte Talente freizuhalten vermochten, hatte zu einer Ein¬
seitigkeit, Gehaltlosigkeit und conventionellen Rhetorik geführt, die sich in zahllosen
Sonetten, Canzonen und Madrigalen breit machte. Bot der Inhalt dieser vor¬
herrschend erotischen Reimereien wenig mehr als ermüdende Variationen der von
Petrarca behandelten Motive, so erstarrte anch die Form zu einem stereotypen
Schema, und es ist begreiflich, daß die poetische Diction an jedem kühnen Auf¬
schwung gehemmt war, wenn man das höchste Verdienst darin erblickte, womöglich
keinen Ausdruck zu gebrauchen, der nicht durch das elastische Beispiel des großen
Aretiners gedeckt werden konnte. Demgegenüber erfreut gerade innerhalb der
neulateinischen Lyrik oft eine höchst achtbare Gestaltungskraft und echt künstlerische
Concentration des Gedankens, die der italienischen Lyrik in bedenklichster Weise
abhanden gekommen war. Namentlich das mit besondern! Eifer gepflegte Epi¬
gramm, mag es nun zum Spott oder zur Verherrlichung dienen, sticht häufig
durch seine lcipidarc Ausdrucksweise aufs vortheilhafteste von der nichtssagenden
Redseligkeit der Dntzendsvnettisten ab. Es sei z. B. nur erinnert an die berühmten
Distichen, die Scmnazar im Auftrage der venezianischen Republik zum Preise der
Lagunenstadt verfaßte und die zu deutsch etwa lauten würden:


Einstmals sah Neptun in den Adrmwogen Venedig
stehn und dem Meer weithin Satzungen geben und Recht.
Nun sprich was du uur willst von deinen tarpejischen Burgen,
Rief er, o Jupiter mir oder den Mauern des Mars!
Giebst du dem Tiber den Preis -- sieh beide die Städte, so nennst du
Jene von menschlicher Hand, diese von Götter" erbaut.

unselige Nachnhmnngssncht auch wirklich originell angelegte Naturen verhinderte,
ihre Individualität künstlerisch zur Geltung zu bringen, und ein fertiger Kanon,
in welchen alles eingezwängt ward, der Freiheit des Schaffens entgegenstand.

Es liegt im Wesen einer mehr experimentirenden und eklektisch eopirenden
als aus innerm Drange heraus schaffenden Literaturepoche, daß von einer folge¬
richtigen Entwicklung der einzelnen Kunstgattungen, wie sie am deutlichsten das
Griechenthum erkennen läßt, keine Rede sein kann, sondern Epos, Lyrik und Drama
gleichzeitig neben einander cultivirt werden. Damit hängt es zusammen, daß allen
Mustern und Regeln zum Trotz, in deren vermeintlichen Vollbesitze man an die
Arbeit ging, oft gerade die wesentlichsten Grundbedingungen, wie wir sehen werden,
außer Acht gelassen wurden.

Wenn man die ungeheure Masse gelehrter Poesien überblickt, welche das
italienische Cinquecento überschwemmten, so sieht man weitaus den größten Raum
die Lyrik einnehmen, der bekanntlich von jeher die Neigung der Nation am meisten
entgegen kam. Die lyrischen Erzeugnisse, die sich in nationaler Sprache gaben,
bieten freilich zumeist ein wenig erfreuliches Bild dar. Die Nachahmung Petrarcas,
von der sich nur vereinzelte Talente freizuhalten vermochten, hatte zu einer Ein¬
seitigkeit, Gehaltlosigkeit und conventionellen Rhetorik geführt, die sich in zahllosen
Sonetten, Canzonen und Madrigalen breit machte. Bot der Inhalt dieser vor¬
herrschend erotischen Reimereien wenig mehr als ermüdende Variationen der von
Petrarca behandelten Motive, so erstarrte anch die Form zu einem stereotypen
Schema, und es ist begreiflich, daß die poetische Diction an jedem kühnen Auf¬
schwung gehemmt war, wenn man das höchste Verdienst darin erblickte, womöglich
keinen Ausdruck zu gebrauchen, der nicht durch das elastische Beispiel des großen
Aretiners gedeckt werden konnte. Demgegenüber erfreut gerade innerhalb der
neulateinischen Lyrik oft eine höchst achtbare Gestaltungskraft und echt künstlerische
Concentration des Gedankens, die der italienischen Lyrik in bedenklichster Weise
abhanden gekommen war. Namentlich das mit besondern! Eifer gepflegte Epi¬
gramm, mag es nun zum Spott oder zur Verherrlichung dienen, sticht häufig
durch seine lcipidarc Ausdrucksweise aufs vortheilhafteste von der nichtssagenden
Redseligkeit der Dntzendsvnettisten ab. Es sei z. B. nur erinnert an die berühmten
Distichen, die Scmnazar im Auftrage der venezianischen Republik zum Preise der
Lagunenstadt verfaßte und die zu deutsch etwa lauten würden:


Einstmals sah Neptun in den Adrmwogen Venedig
stehn und dem Meer weithin Satzungen geben und Recht.
Nun sprich was du uur willst von deinen tarpejischen Burgen,
Rief er, o Jupiter mir oder den Mauern des Mars!
Giebst du dem Tiber den Preis — sieh beide die Städte, so nennst du
Jene von menschlicher Hand, diese von Götter» erbaut.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157697/427>, abgerufen am 28.12.2024.