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Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Erstes Quartal.

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Lossingstudien,

und Wilden Augen die furchtbare Begebenheit gelesen hat, sobald sie das, was
sie nicht wissen kann, geahnt und des Prinzen innerste Absichten in der meuchel¬
mörderischen Hinterlist seines Helfershelfers Marinelli durchschallt hat, da erfaßt
sie sogleich mit richtigem Ueberblick ihre Lage und erkennt, wie sie sich in ihr
zu benehmen hat, "Sie hält den Prinzen in einer Entfernung, sie spricht mit
ihm in einem Tone," den Claudia ihrem Gatten nicht genug rühmen kann.
Eins sieht die kurzsichtige, thörichte Mutter freilich nicht, und dieses eine ist die
Hauptsache. Das äußere Benehmen ihrer Tochter zwar hat sie richtig gedeutet,
und sie bewundert es, aber wovon sie keine Ahnung hat, das ist, daß dieses
Benehmen nur die erzwungne Maske ist, hinter welcher ganz andere Gefühle
um die Herrschaft streiten. Werden sie nie die Oberhand gewinnen, diese Ge¬
fühle? Wird nie ein Augenblick für Emilia kommen, wo ihr der kalt abweisende
Ton nicht mehr gelingen will, wo sie, von der Gewalt ihrer Leidenschaft über¬
mannt und der natürlichen Waffen des Weibes nicht mehr mächtig, sich in die
Hände jenes gewissenlosen Mannes gegeben sieht?

Gewiß, er hätte recht, der gute Matthias Claudius mit seinem gesunden sitt¬
lichen Urtheil, er hätte recht und mit ihm die ganze Schnar derer, die ihm seine
Worte nachgesprochen haben. Wer könnte es denn begreifen, wie eil, Mädchen
so zu sagen an der Leiche ihres Geliebten an ihre Verführung durch einen andern
Mann und an ihr warmes Blut denken kann? Wer könnte es begreifen, wenn
er nicht weiß, daß eben jener fremde Mann dem Herzen dieses Mädchens schon
längst nicht mehr fremd ist, daß er wider ihr Wollen und Bemühen auf ihre
Sinne eine unwiderstehliche Gewalt ausübt?

Und so ist auch der plötzlich aufsteigende Wunsch EmiliaS zu sterben gerecht¬
fertigt. Gerade in diesem Augenblicke muß ihr das, was sich bisher nur un¬
bewußt äußerte, was ihr selbst in seiner vollen Tragweite noch verborgen geblieben
ist, muß ihr ihre Schwäche gegenüber dem Prinzen plötzlich klar und zur völligen
Gewißheit werden. Zu keiner Stunde fühlte sie es so deutlich, daß ihr Herz nicht
vor dem Prinzen sicher, nicht über alle Verführung erhaben ist, als gerade jetzt, wo
sie sich in seine Hände gegeben sieht, und sie zittert über diese Erkenntniß, die
ihr um zu spät kommt. Der Gedanke an den Tod als an den einzigen rettenden
Ausweg beruht also nicht auf einer Ueberspannung, einer Art voll Hellsehen,
wie Adolf Stahr rechtfertigend behaupten möchte (Leben Lessings, II, 18S9,
S. 1^6), er ist nur zu wohl in den realen Verhältnissen begründet.

Nur eine Möglichkeit der Rettung giebt es für Emilia, und diese ist die
Flucht aus dem Bereiche des Prinzen. Schlägt diese Hoffnung fehl, so hat sie
-- das steht ihr vollkommen deutlich vor der Seele -- mir zu wählen zwischen
Schande oder Tod. Emilia bewährt sich hier als ein ächtes Kind des Südens,


Lossingstudien,

und Wilden Augen die furchtbare Begebenheit gelesen hat, sobald sie das, was
sie nicht wissen kann, geahnt und des Prinzen innerste Absichten in der meuchel¬
mörderischen Hinterlist seines Helfershelfers Marinelli durchschallt hat, da erfaßt
sie sogleich mit richtigem Ueberblick ihre Lage und erkennt, wie sie sich in ihr
zu benehmen hat, „Sie hält den Prinzen in einer Entfernung, sie spricht mit
ihm in einem Tone," den Claudia ihrem Gatten nicht genug rühmen kann.
Eins sieht die kurzsichtige, thörichte Mutter freilich nicht, und dieses eine ist die
Hauptsache. Das äußere Benehmen ihrer Tochter zwar hat sie richtig gedeutet,
und sie bewundert es, aber wovon sie keine Ahnung hat, das ist, daß dieses
Benehmen nur die erzwungne Maske ist, hinter welcher ganz andere Gefühle
um die Herrschaft streiten. Werden sie nie die Oberhand gewinnen, diese Ge¬
fühle? Wird nie ein Augenblick für Emilia kommen, wo ihr der kalt abweisende
Ton nicht mehr gelingen will, wo sie, von der Gewalt ihrer Leidenschaft über¬
mannt und der natürlichen Waffen des Weibes nicht mehr mächtig, sich in die
Hände jenes gewissenlosen Mannes gegeben sieht?

Gewiß, er hätte recht, der gute Matthias Claudius mit seinem gesunden sitt¬
lichen Urtheil, er hätte recht und mit ihm die ganze Schnar derer, die ihm seine
Worte nachgesprochen haben. Wer könnte es denn begreifen, wie eil, Mädchen
so zu sagen an der Leiche ihres Geliebten an ihre Verführung durch einen andern
Mann und an ihr warmes Blut denken kann? Wer könnte es begreifen, wenn
er nicht weiß, daß eben jener fremde Mann dem Herzen dieses Mädchens schon
längst nicht mehr fremd ist, daß er wider ihr Wollen und Bemühen auf ihre
Sinne eine unwiderstehliche Gewalt ausübt?

Und so ist auch der plötzlich aufsteigende Wunsch EmiliaS zu sterben gerecht¬
fertigt. Gerade in diesem Augenblicke muß ihr das, was sich bisher nur un¬
bewußt äußerte, was ihr selbst in seiner vollen Tragweite noch verborgen geblieben
ist, muß ihr ihre Schwäche gegenüber dem Prinzen plötzlich klar und zur völligen
Gewißheit werden. Zu keiner Stunde fühlte sie es so deutlich, daß ihr Herz nicht
vor dem Prinzen sicher, nicht über alle Verführung erhaben ist, als gerade jetzt, wo
sie sich in seine Hände gegeben sieht, und sie zittert über diese Erkenntniß, die
ihr um zu spät kommt. Der Gedanke an den Tod als an den einzigen rettenden
Ausweg beruht also nicht auf einer Ueberspannung, einer Art voll Hellsehen,
wie Adolf Stahr rechtfertigend behaupten möchte (Leben Lessings, II, 18S9,
S. 1^6), er ist nur zu wohl in den realen Verhältnissen begründet.

Nur eine Möglichkeit der Rettung giebt es für Emilia, und diese ist die
Flucht aus dem Bereiche des Prinzen. Schlägt diese Hoffnung fehl, so hat sie
— das steht ihr vollkommen deutlich vor der Seele — mir zu wählen zwischen
Schande oder Tod. Emilia bewährt sich hier als ein ächtes Kind des Südens,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157697/345>, abgerufen am 27.12.2024.