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Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Erstes Quartal.

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Julius Moseii,

glaubt, der hat keine Religion, und wenn er das Wort stündlich im Munde
führte. Es giebt nur drei Arten, sich zur Geschichte zu verhalten: irreligiös,
gleichgiltig mit Beruhigung in der privaten Glückseligkeit; antireligiös, in leiden¬
schaftlichem Widerspruche gegen den unaufhaltsamen Gang der Geschichte; reli¬
giös: im Glauben an den Sieg der Wahrheit und die Verwirklichung der Frei¬
heit." (Jahrbücher 1842, S. 1242.) Wurde der Versuch gemacht, sich auf die
Erscheinungen und Thatsachen des Lebens zu berufen, von denen nicht nur die
äußere Wahrheit poetischer Darstellung abhängt, wurde erinnert, daß aus der
bloßen kritischen Negation des Lebens, das mau schlechthin Privatdasein zu
schelten beliebte, keine neue Kunst herauswachsen könne, so rief die neue Kritik
verächtlich: "Wann gab es eine größere leider auch verbreiteter" Verwirrung,
als diejenige, welche jetzt in Bezug auf die Begriffe "positiv und negativ" herrscht.
Man gebe sich nur einmal die Mühe, die verschrieene Negation näher anzusehen,
und man wird finden, daß sie dnrch und durch selbst Position ist. Mir die¬
jenigen freilich, die das Vernünftige, den Gedanken, weil er nicht stillsteht und
sich bewegt, für nicht positiv erklären, und deren kraftloses Epheugemüth einer
alten Mauerruine, eines Factums bedarf, um sich an ihm zu halten, für die
ist aller Fortschritt Negation. In Wahrheit aber ist der Gedanke in seiner
Entwicklung das allein Ewige und Positive, während die Facticität, die Aeußer-
lichkeit des Geschehens eben das Negative, Verschwindende und der Kritik an¬
heimfallende ist."

Mit diesen und ähnlichen Forderungen und Verkündigungen sollte sich der
Dichter einigen oder auseinandersetzen. Nicht schlechthin eine Demokratisierung der
Kunst, eine Tendenzpoesie, welche das gesammte Weltleben im Lichte demokra¬
tischer Ueberzeugungen dargestellt hatte, war gefordert. Eine so geartete Dich¬
tung hätte, obschon sie ans dem eigentlichen Lebenskerne des deutscheu Volkes nicht
hervorzuwachsen vermochte, immerhin alle Eigenschaften specifischer, unmittelbarer
und lebendiger Poesie bewahren können. Das Verhängnis; lag vielmehr darin,
daß vom Dichter begehrt wurde, außerhalb des Lebens, in reiner Abstrciction
erwachsene "Ideen" in die Poesie hineinzutragen, ohne sie zu seinem inner¬
lichen und unveräußerlichen Eigenthum gemacht zu haben, daß er sich über das
Individuelle zum "Allgemeinen" erheben solle, während alle Kunst das "Allge¬
meine" eben nur durch das allenfalls zum Typischen erhobene Individuelle
darstellen kaun. Die Poesie sollte die neue philosophisch-demokratische Ge¬
schichtsbetrachtung, in welcher alles gewesene Leben nur als Vorbereitung für
die Ideen unsers Jahrhunderts galt und auch das unmittelbare Leben der
Gegenwart nur noch Bedeutung hatte, so weit es "politisch" und dem, was
man "Privatleben" schalt, feindselig war, nicht in selbständigen Gebilden ver¬
körpern (damit wäre sie Poesie geblieben und sich bald genug der Lücken der


Julius Moseii,

glaubt, der hat keine Religion, und wenn er das Wort stündlich im Munde
führte. Es giebt nur drei Arten, sich zur Geschichte zu verhalten: irreligiös,
gleichgiltig mit Beruhigung in der privaten Glückseligkeit; antireligiös, in leiden¬
schaftlichem Widerspruche gegen den unaufhaltsamen Gang der Geschichte; reli¬
giös: im Glauben an den Sieg der Wahrheit und die Verwirklichung der Frei¬
heit." (Jahrbücher 1842, S. 1242.) Wurde der Versuch gemacht, sich auf die
Erscheinungen und Thatsachen des Lebens zu berufen, von denen nicht nur die
äußere Wahrheit poetischer Darstellung abhängt, wurde erinnert, daß aus der
bloßen kritischen Negation des Lebens, das mau schlechthin Privatdasein zu
schelten beliebte, keine neue Kunst herauswachsen könne, so rief die neue Kritik
verächtlich: „Wann gab es eine größere leider auch verbreiteter« Verwirrung,
als diejenige, welche jetzt in Bezug auf die Begriffe „positiv und negativ" herrscht.
Man gebe sich nur einmal die Mühe, die verschrieene Negation näher anzusehen,
und man wird finden, daß sie dnrch und durch selbst Position ist. Mir die¬
jenigen freilich, die das Vernünftige, den Gedanken, weil er nicht stillsteht und
sich bewegt, für nicht positiv erklären, und deren kraftloses Epheugemüth einer
alten Mauerruine, eines Factums bedarf, um sich an ihm zu halten, für die
ist aller Fortschritt Negation. In Wahrheit aber ist der Gedanke in seiner
Entwicklung das allein Ewige und Positive, während die Facticität, die Aeußer-
lichkeit des Geschehens eben das Negative, Verschwindende und der Kritik an¬
heimfallende ist."

Mit diesen und ähnlichen Forderungen und Verkündigungen sollte sich der
Dichter einigen oder auseinandersetzen. Nicht schlechthin eine Demokratisierung der
Kunst, eine Tendenzpoesie, welche das gesammte Weltleben im Lichte demokra¬
tischer Ueberzeugungen dargestellt hatte, war gefordert. Eine so geartete Dich¬
tung hätte, obschon sie ans dem eigentlichen Lebenskerne des deutscheu Volkes nicht
hervorzuwachsen vermochte, immerhin alle Eigenschaften specifischer, unmittelbarer
und lebendiger Poesie bewahren können. Das Verhängnis; lag vielmehr darin,
daß vom Dichter begehrt wurde, außerhalb des Lebens, in reiner Abstrciction
erwachsene „Ideen" in die Poesie hineinzutragen, ohne sie zu seinem inner¬
lichen und unveräußerlichen Eigenthum gemacht zu haben, daß er sich über das
Individuelle zum „Allgemeinen" erheben solle, während alle Kunst das „Allge¬
meine" eben nur durch das allenfalls zum Typischen erhobene Individuelle
darstellen kaun. Die Poesie sollte die neue philosophisch-demokratische Ge¬
schichtsbetrachtung, in welcher alles gewesene Leben nur als Vorbereitung für
die Ideen unsers Jahrhunderts galt und auch das unmittelbare Leben der
Gegenwart nur noch Bedeutung hatte, so weit es „politisch" und dem, was
man „Privatleben" schalt, feindselig war, nicht in selbständigen Gebilden ver¬
körpern (damit wäre sie Poesie geblieben und sich bald genug der Lücken der


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157697/34>, abgerufen am 27.12.2024.