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Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Erstes Quartal.

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Lesfingstndien,

betrachtet, groß und erhaben, aber ist sie nach den Grundsätzen Lessings tragisch,
d. h, ist sie im Stande Mitleid zu erregen? Man wird diese Frage ohne Zweifel
verneinen müssen. "Ein blutendes Lamm auf dem Altare der Freiheit" wird
nie des ergreifenden Eindrucks auf unser Herz entbehren, aber der höchsten
tragischen Wirkung ist ein solcher Stoff nicht fähig, ihm fehlt ein Haupterforderniß,
die "//"^" des Aristoteles, die tragische Schuld der Neueren. Es ist zu ver¬
wundern, wie diejenigen, welche auf die tragische Schuld so viel und mehr Ge¬
wicht legen als Lessing, ihm vorwerfen, daß er den antiken Stoff nicht unan¬
getastet gelassen habe.

Und die beiden andern Charaktere der Geschichte? Denn man könnte ja
einwende", daß der Dichter nicht gezwungen war, gerade Virginia zur Haupt¬
person zu machen. Aber Claudius sowohl wie Virginius eignen sich beide gleich
wenig zu tragischen Helden; jener erscheint als der vollendete Bösewicht, dieser,
obwohl er der Handelnde ist, bleibt doch nur eine Nebenperson. Alle drei
Charaktere konnten nicht zu tragischen Helden verwendet werden, ehe sie nicht
eine durchgreifende Wandlung erlitten hatten. Virginia, als Heldin des Stückes
gedacht, durfte nicht schuldlos fallen, Claudius, an derselben Stelle, nicht als
tyrannischer Unmensch erscheinen, und wenn Virginius der Tragödie deu Namen
geben sollte, so mußte er nicht bloß als Rächer seiner Tochter auftreten, sondern
eine selbständige, vorwiegend Politische Rolle übernehmen, die zugleich eine
Modisieirung seines Charakters bedingte.

Lessing hat eine solche Umgestaltung historischer Charaktere nicht sür fehler¬
haft erklärt, aber er hat sie an eine Bedingung geknüpft. "Nur sollte der
Dichter sich -- sagt er (Dramaturgie, 33. Stück) -- im Fall, daß er andre
Charaktere als die historischen oder wohl gar diesen völlig entgegengesetzte wählt,
auch der historischen Namen enthalten, und lieber ganz unbekannten Personen
das bekannte Factum beilegen als bekannten Personen nicht zukommende Charaktere
andichten." Eben dieses Gesetz hat Lessing in seiner Emilia Galotti befolgt.
Der antike Stoff erschien ihm nicht brauchbar, wenn die Charaktere nicht einer
wesentlichen Umwandlung unterzogen würden. Er unterwarf sie dieser Umwand¬
lung, aber er hielt sich nun auch uicht mehr berechtigt, seine neuen Personen die
alten Namen usurpireu zu lassen, und getreu dein Grundsatze, daß einheimische Sitten
in der Tragödie zuträglicher sind als fremde (97. Stück), versetzte er die'also
verwandelte Virginia von dem classischen Boden hinweg mitten in die Atmosphäre
des achtzehnten Jahrhunderts an den Hof eines kleinen italienischen Fürsten.
Die modernisirte Virginia erhielt den Namen Emilia Galotti.

Brauche ich noch zu sagen, worin ich die wesentliche Umgestaltung des
Hanptcharakters sehe? Virginia fällt als schuldlose Märtyrerin der politischen


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Lesfingstndien,

betrachtet, groß und erhaben, aber ist sie nach den Grundsätzen Lessings tragisch,
d. h, ist sie im Stande Mitleid zu erregen? Man wird diese Frage ohne Zweifel
verneinen müssen. „Ein blutendes Lamm auf dem Altare der Freiheit" wird
nie des ergreifenden Eindrucks auf unser Herz entbehren, aber der höchsten
tragischen Wirkung ist ein solcher Stoff nicht fähig, ihm fehlt ein Haupterforderniß,
die «//«^« des Aristoteles, die tragische Schuld der Neueren. Es ist zu ver¬
wundern, wie diejenigen, welche auf die tragische Schuld so viel und mehr Ge¬
wicht legen als Lessing, ihm vorwerfen, daß er den antiken Stoff nicht unan¬
getastet gelassen habe.

Und die beiden andern Charaktere der Geschichte? Denn man könnte ja
einwende», daß der Dichter nicht gezwungen war, gerade Virginia zur Haupt¬
person zu machen. Aber Claudius sowohl wie Virginius eignen sich beide gleich
wenig zu tragischen Helden; jener erscheint als der vollendete Bösewicht, dieser,
obwohl er der Handelnde ist, bleibt doch nur eine Nebenperson. Alle drei
Charaktere konnten nicht zu tragischen Helden verwendet werden, ehe sie nicht
eine durchgreifende Wandlung erlitten hatten. Virginia, als Heldin des Stückes
gedacht, durfte nicht schuldlos fallen, Claudius, an derselben Stelle, nicht als
tyrannischer Unmensch erscheinen, und wenn Virginius der Tragödie deu Namen
geben sollte, so mußte er nicht bloß als Rächer seiner Tochter auftreten, sondern
eine selbständige, vorwiegend Politische Rolle übernehmen, die zugleich eine
Modisieirung seines Charakters bedingte.

Lessing hat eine solche Umgestaltung historischer Charaktere nicht sür fehler¬
haft erklärt, aber er hat sie an eine Bedingung geknüpft. „Nur sollte der
Dichter sich — sagt er (Dramaturgie, 33. Stück) — im Fall, daß er andre
Charaktere als die historischen oder wohl gar diesen völlig entgegengesetzte wählt,
auch der historischen Namen enthalten, und lieber ganz unbekannten Personen
das bekannte Factum beilegen als bekannten Personen nicht zukommende Charaktere
andichten." Eben dieses Gesetz hat Lessing in seiner Emilia Galotti befolgt.
Der antike Stoff erschien ihm nicht brauchbar, wenn die Charaktere nicht einer
wesentlichen Umwandlung unterzogen würden. Er unterwarf sie dieser Umwand¬
lung, aber er hielt sich nun auch uicht mehr berechtigt, seine neuen Personen die
alten Namen usurpireu zu lassen, und getreu dein Grundsatze, daß einheimische Sitten
in der Tragödie zuträglicher sind als fremde (97. Stück), versetzte er die'also
verwandelte Virginia von dem classischen Boden hinweg mitten in die Atmosphäre
des achtzehnten Jahrhunderts an den Hof eines kleinen italienischen Fürsten.
Die modernisirte Virginia erhielt den Namen Emilia Galotti.

Brauche ich noch zu sagen, worin ich die wesentliche Umgestaltung des
Hanptcharakters sehe? Virginia fällt als schuldlose Märtyrerin der politischen


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[0305] Lesfingstndien, betrachtet, groß und erhaben, aber ist sie nach den Grundsätzen Lessings tragisch, d. h, ist sie im Stande Mitleid zu erregen? Man wird diese Frage ohne Zweifel verneinen müssen. „Ein blutendes Lamm auf dem Altare der Freiheit" wird nie des ergreifenden Eindrucks auf unser Herz entbehren, aber der höchsten tragischen Wirkung ist ein solcher Stoff nicht fähig, ihm fehlt ein Haupterforderniß, die «//«^« des Aristoteles, die tragische Schuld der Neueren. Es ist zu ver¬ wundern, wie diejenigen, welche auf die tragische Schuld so viel und mehr Ge¬ wicht legen als Lessing, ihm vorwerfen, daß er den antiken Stoff nicht unan¬ getastet gelassen habe. Und die beiden andern Charaktere der Geschichte? Denn man könnte ja einwende», daß der Dichter nicht gezwungen war, gerade Virginia zur Haupt¬ person zu machen. Aber Claudius sowohl wie Virginius eignen sich beide gleich wenig zu tragischen Helden; jener erscheint als der vollendete Bösewicht, dieser, obwohl er der Handelnde ist, bleibt doch nur eine Nebenperson. Alle drei Charaktere konnten nicht zu tragischen Helden verwendet werden, ehe sie nicht eine durchgreifende Wandlung erlitten hatten. Virginia, als Heldin des Stückes gedacht, durfte nicht schuldlos fallen, Claudius, an derselben Stelle, nicht als tyrannischer Unmensch erscheinen, und wenn Virginius der Tragödie deu Namen geben sollte, so mußte er nicht bloß als Rächer seiner Tochter auftreten, sondern eine selbständige, vorwiegend Politische Rolle übernehmen, die zugleich eine Modisieirung seines Charakters bedingte. Lessing hat eine solche Umgestaltung historischer Charaktere nicht sür fehler¬ haft erklärt, aber er hat sie an eine Bedingung geknüpft. „Nur sollte der Dichter sich — sagt er (Dramaturgie, 33. Stück) — im Fall, daß er andre Charaktere als die historischen oder wohl gar diesen völlig entgegengesetzte wählt, auch der historischen Namen enthalten, und lieber ganz unbekannten Personen das bekannte Factum beilegen als bekannten Personen nicht zukommende Charaktere andichten." Eben dieses Gesetz hat Lessing in seiner Emilia Galotti befolgt. Der antike Stoff erschien ihm nicht brauchbar, wenn die Charaktere nicht einer wesentlichen Umwandlung unterzogen würden. Er unterwarf sie dieser Umwand¬ lung, aber er hielt sich nun auch uicht mehr berechtigt, seine neuen Personen die alten Namen usurpireu zu lassen, und getreu dein Grundsatze, daß einheimische Sitten in der Tragödie zuträglicher sind als fremde (97. Stück), versetzte er die'also verwandelte Virginia von dem classischen Boden hinweg mitten in die Atmosphäre des achtzehnten Jahrhunderts an den Hof eines kleinen italienischen Fürsten. Die modernisirte Virginia erhielt den Namen Emilia Galotti. Brauche ich noch zu sagen, worin ich die wesentliche Umgestaltung des Hanptcharakters sehe? Virginia fällt als schuldlose Märtyrerin der politischen GmizboK'» I. ?88I. 40

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157697/305>, abgerufen am 28.12.2024.