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Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Erstes Quartal.

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Äer Parlamentarismus in England.

"Es war Abend -- ein Sommerabend -- und alle Mitglieder des Cabinets
waren zugegen, als der Herzog den Entwurf zu seiner Depesche herauszog und
sie vorzulesen begann. Und jetzt begab sich etwas, was an sich sehr unbedeutend,
aber in seineu Folgen so außerordentlich bedeutsam war, daß man es, wäre es
in alten Zeiten vorgefallen, der unmittelbaren Einmischung der unsterblichen
Götter zugeschrieben haben würde. In unsern Tagen wird der Physiolog von
der Verfassung sprechen, in welche das menschliche Hirn auf natürliche Weise
versetzt wird, wenn es nach eifrigen Arbeiten ausruht, und der in analytischer
Chemie bewanderte kauu bedauern, daß er leine Gelegenheit gehabt, die Nahrungs¬
mittel, welche die Minister genossen, in der Absicht zu untersuchen, um sich zu
vergewissern, ob nicht darin ein narkotisches Gift gewesen;*) aber kein Wohl-
unterichteter wird das Ereigniß als charakteristisch für die Männer betrachten,
die es betraf; denn gerade die Fehler und nicht weniger die guten Eigenschaften
der Staatsmänner, welche Lord Aberdeens Cabinet bildeten, waren der Art,
daß sie vor dem Vorwurf, sorglose und schläfrige Leute zu sein, gesichert waren.
Gleichwohl ist es feststehende Thatsache, daß alle Mitglieder des Cabinets, aus¬
genommen eine kleine Minderzahl, bevor die Vorlesung des Schriftstücks lange
gedauert hatte, vom Schlaf überwältigt waren. Für einen Augenblick störte
das Geräusch, welches ein umfallender Stuhl verursachte, die Ruhe der Regierung.
Aber bald nachher nahm der Herzog von Newcastle die Vorlesung seines Ent¬
wurfs wieder auf, und wieder senkte sich der verhängnißvolle Schlaf auf die
Augenlider der Minister. Später am Abend und in einem andern Zimmer
(wohl im Speisesaale, nach dem Diner und weiterem Poeuliren) machte der Herzog
von Newcastle einen zweiten und zwar den letzten Versuch, Aufmerksamkeit für
den Inhalt des Entwurfs zu gewinnen, aber wieder stellte sich selige Ruhe
(diesmal kein eigentlicher Schlaf) zwischen die Minister und die Sorge für den
Staat, und alle, selbst die, welche vorher wach geblieben waren, befanden sich
in ruhiger, zustimmender Gemüthsverfassung. Kurz und gut, die Depesche empfing,
obwohl sie von Sätzen, geeignet Einwürfe hervorzurufen, starrte, vom Cabinet
eine Art Billigung, wie sie oft einer von Einwendungen freien Predigt zu
Theil wird. Nicht ein Buchstabe wurde an ihr geändert, und man wird
bald sehen, daß das Zwingende in der Abfassung der Depesche, welches bei einem
wachgebliebnen Cabinet kaum verfehlt haben würde, Einspruch hervorzurufen,
gerade die Ursache wurde, welche die Ereignisse regierte."

Daß die Königin nicht Lust hat, bald als Puppe, bald als Schauddeckel



") Offenbar eine Andeutung, daß die Herren, wie, man zu sagen pflegt, zu stark ge¬
frühstückt , d. h. nach alteugliscyer Sitte im Genusse geistiger Getränke des Guten zu viel
gethan hatten.
Grenzlwten I. 1881. l!7
Äer Parlamentarismus in England.

„Es war Abend — ein Sommerabend — und alle Mitglieder des Cabinets
waren zugegen, als der Herzog den Entwurf zu seiner Depesche herauszog und
sie vorzulesen begann. Und jetzt begab sich etwas, was an sich sehr unbedeutend,
aber in seineu Folgen so außerordentlich bedeutsam war, daß man es, wäre es
in alten Zeiten vorgefallen, der unmittelbaren Einmischung der unsterblichen
Götter zugeschrieben haben würde. In unsern Tagen wird der Physiolog von
der Verfassung sprechen, in welche das menschliche Hirn auf natürliche Weise
versetzt wird, wenn es nach eifrigen Arbeiten ausruht, und der in analytischer
Chemie bewanderte kauu bedauern, daß er leine Gelegenheit gehabt, die Nahrungs¬
mittel, welche die Minister genossen, in der Absicht zu untersuchen, um sich zu
vergewissern, ob nicht darin ein narkotisches Gift gewesen;*) aber kein Wohl-
unterichteter wird das Ereigniß als charakteristisch für die Männer betrachten,
die es betraf; denn gerade die Fehler und nicht weniger die guten Eigenschaften
der Staatsmänner, welche Lord Aberdeens Cabinet bildeten, waren der Art,
daß sie vor dem Vorwurf, sorglose und schläfrige Leute zu sein, gesichert waren.
Gleichwohl ist es feststehende Thatsache, daß alle Mitglieder des Cabinets, aus¬
genommen eine kleine Minderzahl, bevor die Vorlesung des Schriftstücks lange
gedauert hatte, vom Schlaf überwältigt waren. Für einen Augenblick störte
das Geräusch, welches ein umfallender Stuhl verursachte, die Ruhe der Regierung.
Aber bald nachher nahm der Herzog von Newcastle die Vorlesung seines Ent¬
wurfs wieder auf, und wieder senkte sich der verhängnißvolle Schlaf auf die
Augenlider der Minister. Später am Abend und in einem andern Zimmer
(wohl im Speisesaale, nach dem Diner und weiterem Poeuliren) machte der Herzog
von Newcastle einen zweiten und zwar den letzten Versuch, Aufmerksamkeit für
den Inhalt des Entwurfs zu gewinnen, aber wieder stellte sich selige Ruhe
(diesmal kein eigentlicher Schlaf) zwischen die Minister und die Sorge für den
Staat, und alle, selbst die, welche vorher wach geblieben waren, befanden sich
in ruhiger, zustimmender Gemüthsverfassung. Kurz und gut, die Depesche empfing,
obwohl sie von Sätzen, geeignet Einwürfe hervorzurufen, starrte, vom Cabinet
eine Art Billigung, wie sie oft einer von Einwendungen freien Predigt zu
Theil wird. Nicht ein Buchstabe wurde an ihr geändert, und man wird
bald sehen, daß das Zwingende in der Abfassung der Depesche, welches bei einem
wachgebliebnen Cabinet kaum verfehlt haben würde, Einspruch hervorzurufen,
gerade die Ursache wurde, welche die Ereignisse regierte."

Daß die Königin nicht Lust hat, bald als Puppe, bald als Schauddeckel



") Offenbar eine Andeutung, daß die Herren, wie, man zu sagen pflegt, zu stark ge¬
frühstückt , d. h. nach alteugliscyer Sitte im Genusse geistiger Getränke des Guten zu viel
gethan hatten.
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[0281] Äer Parlamentarismus in England. „Es war Abend — ein Sommerabend — und alle Mitglieder des Cabinets waren zugegen, als der Herzog den Entwurf zu seiner Depesche herauszog und sie vorzulesen begann. Und jetzt begab sich etwas, was an sich sehr unbedeutend, aber in seineu Folgen so außerordentlich bedeutsam war, daß man es, wäre es in alten Zeiten vorgefallen, der unmittelbaren Einmischung der unsterblichen Götter zugeschrieben haben würde. In unsern Tagen wird der Physiolog von der Verfassung sprechen, in welche das menschliche Hirn auf natürliche Weise versetzt wird, wenn es nach eifrigen Arbeiten ausruht, und der in analytischer Chemie bewanderte kauu bedauern, daß er leine Gelegenheit gehabt, die Nahrungs¬ mittel, welche die Minister genossen, in der Absicht zu untersuchen, um sich zu vergewissern, ob nicht darin ein narkotisches Gift gewesen;*) aber kein Wohl- unterichteter wird das Ereigniß als charakteristisch für die Männer betrachten, die es betraf; denn gerade die Fehler und nicht weniger die guten Eigenschaften der Staatsmänner, welche Lord Aberdeens Cabinet bildeten, waren der Art, daß sie vor dem Vorwurf, sorglose und schläfrige Leute zu sein, gesichert waren. Gleichwohl ist es feststehende Thatsache, daß alle Mitglieder des Cabinets, aus¬ genommen eine kleine Minderzahl, bevor die Vorlesung des Schriftstücks lange gedauert hatte, vom Schlaf überwältigt waren. Für einen Augenblick störte das Geräusch, welches ein umfallender Stuhl verursachte, die Ruhe der Regierung. Aber bald nachher nahm der Herzog von Newcastle die Vorlesung seines Ent¬ wurfs wieder auf, und wieder senkte sich der verhängnißvolle Schlaf auf die Augenlider der Minister. Später am Abend und in einem andern Zimmer (wohl im Speisesaale, nach dem Diner und weiterem Poeuliren) machte der Herzog von Newcastle einen zweiten und zwar den letzten Versuch, Aufmerksamkeit für den Inhalt des Entwurfs zu gewinnen, aber wieder stellte sich selige Ruhe (diesmal kein eigentlicher Schlaf) zwischen die Minister und die Sorge für den Staat, und alle, selbst die, welche vorher wach geblieben waren, befanden sich in ruhiger, zustimmender Gemüthsverfassung. Kurz und gut, die Depesche empfing, obwohl sie von Sätzen, geeignet Einwürfe hervorzurufen, starrte, vom Cabinet eine Art Billigung, wie sie oft einer von Einwendungen freien Predigt zu Theil wird. Nicht ein Buchstabe wurde an ihr geändert, und man wird bald sehen, daß das Zwingende in der Abfassung der Depesche, welches bei einem wachgebliebnen Cabinet kaum verfehlt haben würde, Einspruch hervorzurufen, gerade die Ursache wurde, welche die Ereignisse regierte." Daß die Königin nicht Lust hat, bald als Puppe, bald als Schauddeckel ") Offenbar eine Andeutung, daß die Herren, wie, man zu sagen pflegt, zu stark ge¬ frühstückt , d. h. nach alteugliscyer Sitte im Genusse geistiger Getränke des Guten zu viel gethan hatten. Grenzlwten I. 1881. l!7

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157697/281>, abgerufen am 27.12.2024.