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Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Erstes Quartal.

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Der Parlamentarismus in England,

in solchen Fällen, wo die Opposition einmal so unterrichtet ist, daß sie urtheilen
kann, ist sie aus folgendem Grunde gewöhnlich außer Staude, eine wirksame
Controle zu üben. Das Ministerium stellt die Cabiuetsfrage, die Führer der
Opposition sehen sich nicht in der Lage, ein neues Ministerium: zu bilden, und
das Resultat ist: sie sprechen gegen die fragliche Maßregel und -- stimmen
dafür. Ein Beispiel von vielen ist Gladstone. der eine gewaltige Rede
gegen den Plan, in Amerika zu werben, abschoß und dann dafür stimmte, "weil
die Gegenwart nicht bereit sei, ein Ministerium aufzustellen,"

Es kann aber nicht anders sein, als es ist. Eine Versammlung von über
fünfhundert Köpfen wie das englische Unterhaus kann in großen Zügen ihren
Willen in Betreff der auswärtigen Politik ausdrücken, die Befolgung desselben
aber nicht controliren; denn ein Cabinet, das eine Politik treibt wie das eng¬
lische lind lvie jeder europäische Großstaat kann nicht von allen seinen Zielen
und Mitteln Rechenschaft ablegen und noch weniger Beschlüsse über dieselben,
während die Sache schwebt, einholen. Nur einzelne Mitglieder des Parlaments
oder eine kleine Gruppe können sich activ mit auswärtiger Politik beschäftigen.
Eine solche Gruppe waren zu der Zeit, wo Bucher schrieb, die Manchcster-
inänner. Diese trieben auswärtige Politik und sehr wirksam, aber möglichst
unter der Tischplatte, wie unsere Schrift S, 20S ff. an zwei Fällen darthut,
von denen wir wenigstens den einen hier nacherzählen wollen.

"Nachdem die Versuche, welche England in den dreißiger Jahren mit
Handelsverträgen gemacht,^) kein befriedigendes Ergebniß gebracht hatten, wurde
in der Presse und von der Ministerbank die Lehre verkündet: wir machen unser"
Tarif; wer mit uns handeln will, ist willkommen, wer nicht, bleibe lveg. Aber
die Kriegskunst ist veränderlich, auch in Manchester, Imi August 1859 inter-
pellirte jemand, der offenbar etwas läuten gehört, ob die Regierung wirklich
die Absicht habe, einen Handelsvertrag mit Frankreich zu schließen. Die Ant¬
wort lautete der Wahrheit gemäß, nein. Im Oetober aber ging Cobden, der
vorher einen Besuch von Michel Chevalier erhalten, ganz leise nach Paris. Die
Lage und Ziele des Kaisers, soweit sie sich von außen beurtheilen lassen, waren
damals folgende: Er fürchtete wegen Nizza und Savohen einen gemeinsamen
Protest der Mächte, den Vorläufer einer Coalition. Es kam ihm vor allem
darauf an, England still zu halte". Ein Mittel dazu war, den französischen
Tarif zu Gunsten Englands etwas zu ermäßigen. Eine autonome Tarifver-



*) Beaconsfield läßt im "Endymion" fil, 57) Thoruberry (Cobden) sagen: "Verderb¬
licherer Unsinn als Handelsverträge ist nie von Menschen ausgeheckt worden. Indeß wird
ihre kostbare Clausel von der meistbegünstigten Nation den ganzen Krempel zusammen¬
stürzen lassen,"
Der Parlamentarismus in England,

in solchen Fällen, wo die Opposition einmal so unterrichtet ist, daß sie urtheilen
kann, ist sie aus folgendem Grunde gewöhnlich außer Staude, eine wirksame
Controle zu üben. Das Ministerium stellt die Cabiuetsfrage, die Führer der
Opposition sehen sich nicht in der Lage, ein neues Ministerium: zu bilden, und
das Resultat ist: sie sprechen gegen die fragliche Maßregel und — stimmen
dafür. Ein Beispiel von vielen ist Gladstone. der eine gewaltige Rede
gegen den Plan, in Amerika zu werben, abschoß und dann dafür stimmte, „weil
die Gegenwart nicht bereit sei, ein Ministerium aufzustellen,"

Es kann aber nicht anders sein, als es ist. Eine Versammlung von über
fünfhundert Köpfen wie das englische Unterhaus kann in großen Zügen ihren
Willen in Betreff der auswärtigen Politik ausdrücken, die Befolgung desselben
aber nicht controliren; denn ein Cabinet, das eine Politik treibt wie das eng¬
lische lind lvie jeder europäische Großstaat kann nicht von allen seinen Zielen
und Mitteln Rechenschaft ablegen und noch weniger Beschlüsse über dieselben,
während die Sache schwebt, einholen. Nur einzelne Mitglieder des Parlaments
oder eine kleine Gruppe können sich activ mit auswärtiger Politik beschäftigen.
Eine solche Gruppe waren zu der Zeit, wo Bucher schrieb, die Manchcster-
inänner. Diese trieben auswärtige Politik und sehr wirksam, aber möglichst
unter der Tischplatte, wie unsere Schrift S, 20S ff. an zwei Fällen darthut,
von denen wir wenigstens den einen hier nacherzählen wollen.

„Nachdem die Versuche, welche England in den dreißiger Jahren mit
Handelsverträgen gemacht,^) kein befriedigendes Ergebniß gebracht hatten, wurde
in der Presse und von der Ministerbank die Lehre verkündet: wir machen unser»
Tarif; wer mit uns handeln will, ist willkommen, wer nicht, bleibe lveg. Aber
die Kriegskunst ist veränderlich, auch in Manchester, Imi August 1859 inter-
pellirte jemand, der offenbar etwas läuten gehört, ob die Regierung wirklich
die Absicht habe, einen Handelsvertrag mit Frankreich zu schließen. Die Ant¬
wort lautete der Wahrheit gemäß, nein. Im Oetober aber ging Cobden, der
vorher einen Besuch von Michel Chevalier erhalten, ganz leise nach Paris. Die
Lage und Ziele des Kaisers, soweit sie sich von außen beurtheilen lassen, waren
damals folgende: Er fürchtete wegen Nizza und Savohen einen gemeinsamen
Protest der Mächte, den Vorläufer einer Coalition. Es kam ihm vor allem
darauf an, England still zu halte». Ein Mittel dazu war, den französischen
Tarif zu Gunsten Englands etwas zu ermäßigen. Eine autonome Tarifver-



*) Beaconsfield läßt im „Endymion" fil, 57) Thoruberry (Cobden) sagen: „Verderb¬
licherer Unsinn als Handelsverträge ist nie von Menschen ausgeheckt worden. Indeß wird
ihre kostbare Clausel von der meistbegünstigten Nation den ganzen Krempel zusammen¬
stürzen lassen,"
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[0278] Der Parlamentarismus in England, in solchen Fällen, wo die Opposition einmal so unterrichtet ist, daß sie urtheilen kann, ist sie aus folgendem Grunde gewöhnlich außer Staude, eine wirksame Controle zu üben. Das Ministerium stellt die Cabiuetsfrage, die Führer der Opposition sehen sich nicht in der Lage, ein neues Ministerium: zu bilden, und das Resultat ist: sie sprechen gegen die fragliche Maßregel und — stimmen dafür. Ein Beispiel von vielen ist Gladstone. der eine gewaltige Rede gegen den Plan, in Amerika zu werben, abschoß und dann dafür stimmte, „weil die Gegenwart nicht bereit sei, ein Ministerium aufzustellen," Es kann aber nicht anders sein, als es ist. Eine Versammlung von über fünfhundert Köpfen wie das englische Unterhaus kann in großen Zügen ihren Willen in Betreff der auswärtigen Politik ausdrücken, die Befolgung desselben aber nicht controliren; denn ein Cabinet, das eine Politik treibt wie das eng¬ lische lind lvie jeder europäische Großstaat kann nicht von allen seinen Zielen und Mitteln Rechenschaft ablegen und noch weniger Beschlüsse über dieselben, während die Sache schwebt, einholen. Nur einzelne Mitglieder des Parlaments oder eine kleine Gruppe können sich activ mit auswärtiger Politik beschäftigen. Eine solche Gruppe waren zu der Zeit, wo Bucher schrieb, die Manchcster- inänner. Diese trieben auswärtige Politik und sehr wirksam, aber möglichst unter der Tischplatte, wie unsere Schrift S, 20S ff. an zwei Fällen darthut, von denen wir wenigstens den einen hier nacherzählen wollen. „Nachdem die Versuche, welche England in den dreißiger Jahren mit Handelsverträgen gemacht,^) kein befriedigendes Ergebniß gebracht hatten, wurde in der Presse und von der Ministerbank die Lehre verkündet: wir machen unser» Tarif; wer mit uns handeln will, ist willkommen, wer nicht, bleibe lveg. Aber die Kriegskunst ist veränderlich, auch in Manchester, Imi August 1859 inter- pellirte jemand, der offenbar etwas läuten gehört, ob die Regierung wirklich die Absicht habe, einen Handelsvertrag mit Frankreich zu schließen. Die Ant¬ wort lautete der Wahrheit gemäß, nein. Im Oetober aber ging Cobden, der vorher einen Besuch von Michel Chevalier erhalten, ganz leise nach Paris. Die Lage und Ziele des Kaisers, soweit sie sich von außen beurtheilen lassen, waren damals folgende: Er fürchtete wegen Nizza und Savohen einen gemeinsamen Protest der Mächte, den Vorläufer einer Coalition. Es kam ihm vor allem darauf an, England still zu halte». Ein Mittel dazu war, den französischen Tarif zu Gunsten Englands etwas zu ermäßigen. Eine autonome Tarifver- *) Beaconsfield läßt im „Endymion" fil, 57) Thoruberry (Cobden) sagen: „Verderb¬ licherer Unsinn als Handelsverträge ist nie von Menschen ausgeheckt worden. Indeß wird ihre kostbare Clausel von der meistbegünstigten Nation den ganzen Krempel zusammen¬ stürzen lassen,"

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157697/278>, abgerufen am 28.12.2024.