Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Erstes Quartal.

Bild:
<< vorherige Seite

Rathe von England hat, haben die Völker des Festlands sich bittrer
Feindschaft zu versehen, und der theologische Haß, der einen ihrer Redner
(vgl. die von Bucher S. 133 citirte Philippiea der Times gegen Gladstone)
in Augenblicken einen raubthiernhnlichcn Ausdruck verleiht, ruht auf keinem
Volte stetiger und unversöhnlicher als auf dem deutschen." Man wolle sich
das gefälligst merken.

Ein letztes neues Element im Unterhause bilden die Jrländer, über die
wir unsre Schrift S. 134 ff. nachzulesen bitten, womit mau Becieonsfields Roman
S. 68, 72 und 84 vergleichen wolle. Bekannt ist, daß die Radicalen in den
letzten Jahren in England so große Fortschritte gemacht haben, daß Gladstone
zum Theil darauf hin (zum Theil aber wohl auch wegen einer gewissen Geistes¬
verwandtschaft mit ihnen) sich bewogen fand, ihnen in Bright, Chamberlain und
Dilke Stellen in seinem Ministerium einzuräumen.

Nur zwischen zwei Parteien, wie die Tories und Whigs früher
waren, ist das möglich, was man parlamentarische Regierung nennt.
Zwischen den Parteien des Festlandes ist es nicht möglich. Hier be¬
steht der Parlamentarismus in einem Kreislauf von Revolutionen. "Die großen
Völker des Festlandes können durch einen Negierungsmcchanismus ihrer Selbst¬
bestimmung beraubt werden; sie mögen in dem Zustande der Gebundenheit der
Kräfte fremden Erobrern zur Beute werden und ihre Ruinen ausgestrichen sehn.
Aber keine zwei Cliquen von gestern werden hier von oben oder von
unten die Gewalt geschenkt bekommen, um sich behaglich darin zu
schaukeln und hin und wieder auch von andern Interessen als ihren
eignen Notiz zu nehmen. Welches auch die Entwicklung sein möge, sie kann
den Weg nicht nachholen, den die englische seit anderthalb Jahrhunderten zurück¬
gelegt hat. Sie kann nicht zu dem Punkte springen, auf dem die englische heute
steht. Und gut, daß es so ist. Die Aristokratie hat sich (wie oben gezeigt
worden) nicht bloß von der Willkür der Krone, sondern auch von der Herrschaft
des Gesetzes frei gemacht, in Kleinigkeiten nicht, aber in großen Dingen....
Sie hat die Ministerverantwortlichkeit abgeschafft. "Die Ministeranklage hat
England groß gemacht," sagte Burke. "Die Zeiten der Ministeranklage sind
vorüber," rief Peel aus. Ein Tadelsvotum ersetzt den Proceß, temporäre Ent¬
fernung aus dem Amte ist die Strafe. Ein Tadelsvotum hängt davon ab,
ob sich eine Majorität dafür findet, die Majorität davon, ob die Opposition
sich im Stande fühlt ein neues Cabinet zu bilden, und die Bildung eines Cabinets
ist, wenigstens jetzt, bei der Zerbröcklnng der Parteien, das Werk von Intriguen,
"der großen Verrätherei, die das Gewissen Englands empört und die Ruhe
Englands wieder herstellt."


Grenzbvwi I. 1881. 66

Rathe von England hat, haben die Völker des Festlands sich bittrer
Feindschaft zu versehen, und der theologische Haß, der einen ihrer Redner
(vgl. die von Bucher S. 133 citirte Philippiea der Times gegen Gladstone)
in Augenblicken einen raubthiernhnlichcn Ausdruck verleiht, ruht auf keinem
Volte stetiger und unversöhnlicher als auf dem deutschen." Man wolle sich
das gefälligst merken.

Ein letztes neues Element im Unterhause bilden die Jrländer, über die
wir unsre Schrift S. 134 ff. nachzulesen bitten, womit mau Becieonsfields Roman
S. 68, 72 und 84 vergleichen wolle. Bekannt ist, daß die Radicalen in den
letzten Jahren in England so große Fortschritte gemacht haben, daß Gladstone
zum Theil darauf hin (zum Theil aber wohl auch wegen einer gewissen Geistes¬
verwandtschaft mit ihnen) sich bewogen fand, ihnen in Bright, Chamberlain und
Dilke Stellen in seinem Ministerium einzuräumen.

Nur zwischen zwei Parteien, wie die Tories und Whigs früher
waren, ist das möglich, was man parlamentarische Regierung nennt.
Zwischen den Parteien des Festlandes ist es nicht möglich. Hier be¬
steht der Parlamentarismus in einem Kreislauf von Revolutionen. „Die großen
Völker des Festlandes können durch einen Negierungsmcchanismus ihrer Selbst¬
bestimmung beraubt werden; sie mögen in dem Zustande der Gebundenheit der
Kräfte fremden Erobrern zur Beute werden und ihre Ruinen ausgestrichen sehn.
Aber keine zwei Cliquen von gestern werden hier von oben oder von
unten die Gewalt geschenkt bekommen, um sich behaglich darin zu
schaukeln und hin und wieder auch von andern Interessen als ihren
eignen Notiz zu nehmen. Welches auch die Entwicklung sein möge, sie kann
den Weg nicht nachholen, den die englische seit anderthalb Jahrhunderten zurück¬
gelegt hat. Sie kann nicht zu dem Punkte springen, auf dem die englische heute
steht. Und gut, daß es so ist. Die Aristokratie hat sich (wie oben gezeigt
worden) nicht bloß von der Willkür der Krone, sondern auch von der Herrschaft
des Gesetzes frei gemacht, in Kleinigkeiten nicht, aber in großen Dingen....
Sie hat die Ministerverantwortlichkeit abgeschafft. „Die Ministeranklage hat
England groß gemacht," sagte Burke. „Die Zeiten der Ministeranklage sind
vorüber," rief Peel aus. Ein Tadelsvotum ersetzt den Proceß, temporäre Ent¬
fernung aus dem Amte ist die Strafe. Ein Tadelsvotum hängt davon ab,
ob sich eine Majorität dafür findet, die Majorität davon, ob die Opposition
sich im Stande fühlt ein neues Cabinet zu bilden, und die Bildung eines Cabinets
ist, wenigstens jetzt, bei der Zerbröcklnng der Parteien, das Werk von Intriguen,
„der großen Verrätherei, die das Gewissen Englands empört und die Ruhe
Englands wieder herstellt."


Grenzbvwi I. 1881. 66
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0273" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/149257"/>
          <fw type="header" place="top"/><lb/>
          <p xml:id="ID_743" prev="#ID_742"> Rathe von England hat, haben die Völker des Festlands sich bittrer<lb/>
Feindschaft zu versehen, und der theologische Haß, der einen ihrer Redner<lb/>
(vgl. die von Bucher S. 133 citirte Philippiea der Times gegen Gladstone)<lb/>
in Augenblicken einen raubthiernhnlichcn Ausdruck verleiht, ruht auf keinem<lb/>
Volte stetiger und unversöhnlicher als auf dem deutschen." Man wolle sich<lb/>
das gefälligst merken.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_744"> Ein letztes neues Element im Unterhause bilden die Jrländer, über die<lb/>
wir unsre Schrift S. 134 ff. nachzulesen bitten, womit mau Becieonsfields Roman<lb/>
S. 68, 72 und 84 vergleichen wolle. Bekannt ist, daß die Radicalen in den<lb/>
letzten Jahren in England so große Fortschritte gemacht haben, daß Gladstone<lb/>
zum Theil darauf hin (zum Theil aber wohl auch wegen einer gewissen Geistes¬<lb/>
verwandtschaft mit ihnen) sich bewogen fand, ihnen in Bright, Chamberlain und<lb/>
Dilke Stellen in seinem Ministerium einzuräumen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_745"> Nur zwischen zwei Parteien, wie die Tories und Whigs früher<lb/>
waren, ist das möglich, was man parlamentarische Regierung nennt.<lb/>
Zwischen den Parteien des Festlandes ist es nicht möglich. Hier be¬<lb/>
steht der Parlamentarismus in einem Kreislauf von Revolutionen. &#x201E;Die großen<lb/>
Völker des Festlandes können durch einen Negierungsmcchanismus ihrer Selbst¬<lb/>
bestimmung beraubt werden; sie mögen in dem Zustande der Gebundenheit der<lb/>
Kräfte fremden Erobrern zur Beute werden und ihre Ruinen ausgestrichen sehn.<lb/>
Aber keine zwei Cliquen von gestern werden hier von oben oder von<lb/>
unten die Gewalt geschenkt bekommen, um sich behaglich darin zu<lb/>
schaukeln und hin und wieder auch von andern Interessen als ihren<lb/>
eignen Notiz zu nehmen. Welches auch die Entwicklung sein möge, sie kann<lb/>
den Weg nicht nachholen, den die englische seit anderthalb Jahrhunderten zurück¬<lb/>
gelegt hat. Sie kann nicht zu dem Punkte springen, auf dem die englische heute<lb/>
steht. Und gut, daß es so ist. Die Aristokratie hat sich (wie oben gezeigt<lb/>
worden) nicht bloß von der Willkür der Krone, sondern auch von der Herrschaft<lb/>
des Gesetzes frei gemacht, in Kleinigkeiten nicht, aber in großen Dingen....<lb/>
Sie hat die Ministerverantwortlichkeit abgeschafft. &#x201E;Die Ministeranklage hat<lb/>
England groß gemacht," sagte Burke. &#x201E;Die Zeiten der Ministeranklage sind<lb/>
vorüber," rief Peel aus. Ein Tadelsvotum ersetzt den Proceß, temporäre Ent¬<lb/>
fernung aus dem Amte ist die Strafe. Ein Tadelsvotum hängt davon ab,<lb/>
ob sich eine Majorität dafür findet, die Majorität davon, ob die Opposition<lb/>
sich im Stande fühlt ein neues Cabinet zu bilden, und die Bildung eines Cabinets<lb/>
ist, wenigstens jetzt, bei der Zerbröcklnng der Parteien, das Werk von Intriguen,<lb/>
&#x201E;der großen Verrätherei, die das Gewissen Englands empört und die Ruhe<lb/>
Englands wieder herstellt."</p><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> Grenzbvwi I. 1881. 66</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0273] Rathe von England hat, haben die Völker des Festlands sich bittrer Feindschaft zu versehen, und der theologische Haß, der einen ihrer Redner (vgl. die von Bucher S. 133 citirte Philippiea der Times gegen Gladstone) in Augenblicken einen raubthiernhnlichcn Ausdruck verleiht, ruht auf keinem Volte stetiger und unversöhnlicher als auf dem deutschen." Man wolle sich das gefälligst merken. Ein letztes neues Element im Unterhause bilden die Jrländer, über die wir unsre Schrift S. 134 ff. nachzulesen bitten, womit mau Becieonsfields Roman S. 68, 72 und 84 vergleichen wolle. Bekannt ist, daß die Radicalen in den letzten Jahren in England so große Fortschritte gemacht haben, daß Gladstone zum Theil darauf hin (zum Theil aber wohl auch wegen einer gewissen Geistes¬ verwandtschaft mit ihnen) sich bewogen fand, ihnen in Bright, Chamberlain und Dilke Stellen in seinem Ministerium einzuräumen. Nur zwischen zwei Parteien, wie die Tories und Whigs früher waren, ist das möglich, was man parlamentarische Regierung nennt. Zwischen den Parteien des Festlandes ist es nicht möglich. Hier be¬ steht der Parlamentarismus in einem Kreislauf von Revolutionen. „Die großen Völker des Festlandes können durch einen Negierungsmcchanismus ihrer Selbst¬ bestimmung beraubt werden; sie mögen in dem Zustande der Gebundenheit der Kräfte fremden Erobrern zur Beute werden und ihre Ruinen ausgestrichen sehn. Aber keine zwei Cliquen von gestern werden hier von oben oder von unten die Gewalt geschenkt bekommen, um sich behaglich darin zu schaukeln und hin und wieder auch von andern Interessen als ihren eignen Notiz zu nehmen. Welches auch die Entwicklung sein möge, sie kann den Weg nicht nachholen, den die englische seit anderthalb Jahrhunderten zurück¬ gelegt hat. Sie kann nicht zu dem Punkte springen, auf dem die englische heute steht. Und gut, daß es so ist. Die Aristokratie hat sich (wie oben gezeigt worden) nicht bloß von der Willkür der Krone, sondern auch von der Herrschaft des Gesetzes frei gemacht, in Kleinigkeiten nicht, aber in großen Dingen.... Sie hat die Ministerverantwortlichkeit abgeschafft. „Die Ministeranklage hat England groß gemacht," sagte Burke. „Die Zeiten der Ministeranklage sind vorüber," rief Peel aus. Ein Tadelsvotum ersetzt den Proceß, temporäre Ent¬ fernung aus dem Amte ist die Strafe. Ein Tadelsvotum hängt davon ab, ob sich eine Majorität dafür findet, die Majorität davon, ob die Opposition sich im Stande fühlt ein neues Cabinet zu bilden, und die Bildung eines Cabinets ist, wenigstens jetzt, bei der Zerbröcklnng der Parteien, das Werk von Intriguen, „der großen Verrätherei, die das Gewissen Englands empört und die Ruhe Englands wieder herstellt." Grenzbvwi I. 1881. 66

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157697
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157697/273
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157697/273>, abgerufen am 28.09.2024.