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Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Erstes Quartal.

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Lessingstudien.

stoteles ganz im Gegensatze zu der geistvollen Abhandlung von Jakob Bcruays
aus dem Jahre 18S7 zu dein Resultate gekommen ist, auch Aristoteles eine
ethische Auffassung seiner vielbesprochnen Reinigung des Mitleids lind der Furcht
zuzuschreiben."') Wenn die heutige Wissenschaft in der aristotelischen Katharsis,
ohne diesem ursprünglich medicinischen Terminus Gewalt anzuthun, die Her¬
stellung der Metriopathie, des richtigen MnßeS im Empfinden, versteht, so lehrt
sie damit im wesentlichen nur zu Lessings Erklärung zurück, freilich unter einer
viel umfassender" Begründung als dieser sie geben konnte und in seiner Dra¬
maturgie auch geben durfte. Denn nicht allein in der ethischen Auffassung
der Katharsis überhaupt, sondern gerade auch in der specielle" Erläuterung des
kathartischen Vorgangs war Lessing an der Hand des Aristoteles zu dem näm¬
lichen Resultate gelangt. An eben dem Orte, wo er von der Verwandlung der
Leidenschaften in tugendhafte Fertigkeiten spricht (78. Stück), weist er darauf
hin, daß nach Aristoteles bei jeder Tugend sich diesseits und jenseits ein Extrem
finde, zwischen denen sie mitten inne stehe. "So muß --- fährt er fort -- mich
die Tragödie, wenn sie unser Mitleid in Tugend verwandeln soll, uns von
beiden Extremen des Mitleids zu reinige" vermögend sei"; welches mich von
der Furcht zu verstehen." Dennoch geht man wohl darin wieder zu weit, nun¬
mehr jede wesentliche Verschiedenheit zwischen Lessings und Aristoteles' An-
schauung zu bestreiten. Wenn dem griechischen Philosophen die ethische Wir¬
kung der Tragödie mir eine momentane war -- das ist wenigstens die he"tige
Auffassung so ist damit ein Punkt aufgedeckt, in welchem Lessing um ein
Bedeutendes hinter Aristoteles zurückbleibt. Deun das läßt sich nicht hinweg-
denteln, daß Lessing mit seiner Verwandlung der Leidenschaften in tugendhafte
Fertigkeiten eine dauernde Moralwirkung im Auge hatte.

So nähe sich aber auch Lessing im übrigen mit Aristoteles berührt, ja so
sehr er in dieser Frage geradezu als sein Schüler bezeichnet werden darf, so
weit entfernt er sich von Goethe. Zwischen beider Anschauungen el"c Brücke
zu schlage" ist unmöglich. Man hat, um eine Vermittlung zu versuchen, eine
Stelle aus Goethes Gesprächen mit Eckermann citirt (III. 130 und 141--144.
Ausgabe von 1848), in welcher er zugiebt, daß eine sittliche Wirkung nnter
Umstände" auch aus dem Gegeustaiide selber hervorgehe" könne. Aber einen
solchen stofflichen Effect hatte Lessing euer" nicht geradezu als fehlerhaft so doch
als der Tragödie nicht wesentlich zukommend bezeichnet, und Goethe selbst nennt



*) Vgl. H. Baumgart, Begriff der tragischen Katharsis (in FlcckeiscnS Jahrbüchern,
Bd. III., S. 81 ff. s18?!i>); O. Weddigen, Lessings Theorie der Tragödie mit Rücksicht aus
die Controverse über die r,?v ?r"",/,,"r?,<,> (1876) und H. Baumgart, Aristoteles,
Lessing und Goethe "1877).
Lessingstudien.

stoteles ganz im Gegensatze zu der geistvollen Abhandlung von Jakob Bcruays
aus dem Jahre 18S7 zu dein Resultate gekommen ist, auch Aristoteles eine
ethische Auffassung seiner vielbesprochnen Reinigung des Mitleids lind der Furcht
zuzuschreiben."') Wenn die heutige Wissenschaft in der aristotelischen Katharsis,
ohne diesem ursprünglich medicinischen Terminus Gewalt anzuthun, die Her¬
stellung der Metriopathie, des richtigen MnßeS im Empfinden, versteht, so lehrt
sie damit im wesentlichen nur zu Lessings Erklärung zurück, freilich unter einer
viel umfassender» Begründung als dieser sie geben konnte und in seiner Dra¬
maturgie auch geben durfte. Denn nicht allein in der ethischen Auffassung
der Katharsis überhaupt, sondern gerade auch in der specielle» Erläuterung des
kathartischen Vorgangs war Lessing an der Hand des Aristoteles zu dem näm¬
lichen Resultate gelangt. An eben dem Orte, wo er von der Verwandlung der
Leidenschaften in tugendhafte Fertigkeiten spricht (78. Stück), weist er darauf
hin, daß nach Aristoteles bei jeder Tugend sich diesseits und jenseits ein Extrem
finde, zwischen denen sie mitten inne stehe. „So muß —- fährt er fort — mich
die Tragödie, wenn sie unser Mitleid in Tugend verwandeln soll, uns von
beiden Extremen des Mitleids zu reinige» vermögend sei»; welches mich von
der Furcht zu verstehen." Dennoch geht man wohl darin wieder zu weit, nun¬
mehr jede wesentliche Verschiedenheit zwischen Lessings und Aristoteles' An-
schauung zu bestreiten. Wenn dem griechischen Philosophen die ethische Wir¬
kung der Tragödie mir eine momentane war — das ist wenigstens die he»tige
Auffassung so ist damit ein Punkt aufgedeckt, in welchem Lessing um ein
Bedeutendes hinter Aristoteles zurückbleibt. Deun das läßt sich nicht hinweg-
denteln, daß Lessing mit seiner Verwandlung der Leidenschaften in tugendhafte
Fertigkeiten eine dauernde Moralwirkung im Auge hatte.

So nähe sich aber auch Lessing im übrigen mit Aristoteles berührt, ja so
sehr er in dieser Frage geradezu als sein Schüler bezeichnet werden darf, so
weit entfernt er sich von Goethe. Zwischen beider Anschauungen el»c Brücke
zu schlage» ist unmöglich. Man hat, um eine Vermittlung zu versuchen, eine
Stelle aus Goethes Gesprächen mit Eckermann citirt (III. 130 und 141—144.
Ausgabe von 1848), in welcher er zugiebt, daß eine sittliche Wirkung nnter
Umstände» auch aus dem Gegeustaiide selber hervorgehe» könne. Aber einen
solchen stofflichen Effect hatte Lessing euer» nicht geradezu als fehlerhaft so doch
als der Tragödie nicht wesentlich zukommend bezeichnet, und Goethe selbst nennt



*) Vgl. H. Baumgart, Begriff der tragischen Katharsis (in FlcckeiscnS Jahrbüchern,
Bd. III., S. 81 ff. s18?!i>); O. Weddigen, Lessings Theorie der Tragödie mit Rücksicht aus
die Controverse über die r,?v ?r»»,/,,»r?,<,> (1876) und H. Baumgart, Aristoteles,
Lessing und Goethe «1877).
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[0246] Lessingstudien. stoteles ganz im Gegensatze zu der geistvollen Abhandlung von Jakob Bcruays aus dem Jahre 18S7 zu dein Resultate gekommen ist, auch Aristoteles eine ethische Auffassung seiner vielbesprochnen Reinigung des Mitleids lind der Furcht zuzuschreiben."') Wenn die heutige Wissenschaft in der aristotelischen Katharsis, ohne diesem ursprünglich medicinischen Terminus Gewalt anzuthun, die Her¬ stellung der Metriopathie, des richtigen MnßeS im Empfinden, versteht, so lehrt sie damit im wesentlichen nur zu Lessings Erklärung zurück, freilich unter einer viel umfassender» Begründung als dieser sie geben konnte und in seiner Dra¬ maturgie auch geben durfte. Denn nicht allein in der ethischen Auffassung der Katharsis überhaupt, sondern gerade auch in der specielle» Erläuterung des kathartischen Vorgangs war Lessing an der Hand des Aristoteles zu dem näm¬ lichen Resultate gelangt. An eben dem Orte, wo er von der Verwandlung der Leidenschaften in tugendhafte Fertigkeiten spricht (78. Stück), weist er darauf hin, daß nach Aristoteles bei jeder Tugend sich diesseits und jenseits ein Extrem finde, zwischen denen sie mitten inne stehe. „So muß —- fährt er fort — mich die Tragödie, wenn sie unser Mitleid in Tugend verwandeln soll, uns von beiden Extremen des Mitleids zu reinige» vermögend sei»; welches mich von der Furcht zu verstehen." Dennoch geht man wohl darin wieder zu weit, nun¬ mehr jede wesentliche Verschiedenheit zwischen Lessings und Aristoteles' An- schauung zu bestreiten. Wenn dem griechischen Philosophen die ethische Wir¬ kung der Tragödie mir eine momentane war — das ist wenigstens die he»tige Auffassung so ist damit ein Punkt aufgedeckt, in welchem Lessing um ein Bedeutendes hinter Aristoteles zurückbleibt. Deun das läßt sich nicht hinweg- denteln, daß Lessing mit seiner Verwandlung der Leidenschaften in tugendhafte Fertigkeiten eine dauernde Moralwirkung im Auge hatte. So nähe sich aber auch Lessing im übrigen mit Aristoteles berührt, ja so sehr er in dieser Frage geradezu als sein Schüler bezeichnet werden darf, so weit entfernt er sich von Goethe. Zwischen beider Anschauungen el»c Brücke zu schlage» ist unmöglich. Man hat, um eine Vermittlung zu versuchen, eine Stelle aus Goethes Gesprächen mit Eckermann citirt (III. 130 und 141—144. Ausgabe von 1848), in welcher er zugiebt, daß eine sittliche Wirkung nnter Umstände» auch aus dem Gegeustaiide selber hervorgehe» könne. Aber einen solchen stofflichen Effect hatte Lessing euer» nicht geradezu als fehlerhaft so doch als der Tragödie nicht wesentlich zukommend bezeichnet, und Goethe selbst nennt *) Vgl. H. Baumgart, Begriff der tragischen Katharsis (in FlcckeiscnS Jahrbüchern, Bd. III., S. 81 ff. s18?!i>); O. Weddigen, Lessings Theorie der Tragödie mit Rücksicht aus die Controverse über die r,?v ?r»»,/,,»r?,<,> (1876) und H. Baumgart, Aristoteles, Lessing und Goethe «1877).

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157697/246>, abgerufen am 27.12.2024.