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Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Erstes Quartal.

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Entwicklung der großen einfachen Principien, des gemeinen Rechtes, nicht zu
deren Zerstörung zu dienen bestimmt war. Das Parlament aber empfand gleich
allen delegirteu Gewalten die Neigung, seinen Auftrag in ein selbständiges Recht
zu verwandeln und seine Interessen über die des Volkes zu stellen. Wenn die
Entwicklung nach dieser Richtung langsam gegangen ist und sich erst jetzt voll¬
endet, so erklärt sich das aus den Vorkehrungen, die das gemeine Recht gegen
diese Gefahr getroffen hatte. Die bezeichnete Neigung ist immer vorhanden ge¬
wesen, und die innere wie die äußere Geschichte Englands war ein steter Kampf
des Parlaments gegen das gemeine Recht. "Auch die Geschichte der Krone
liegt in der Definition: ihr Kampf, bald mit dem gemeinen Rechte gegen das
Parlament, bald mit dem Parlamente gegen das gemeine Recht, ihr Sieg, ge¬
feiert durch den Despotismus Elisabeths, ihre Niederlage, vollendet durch den
verunglückten Emaneipatinsversuch Georgs III., die verhänißvolle Wahl, vor
der sie jetzt vielleicht schon nicht mehr steht, nach ihrem alten Recht und ihrer
alten Pflicht als Wächterin der Rechte aller zurückzugreifen oder sich im Stillen
zur Rettung der Gesellschaft zu rüsten."

Wie sich das Parlamentsrecht zum genieinen verhält, ist in England eine
offene Frage. Blackstone gab jenem den Vorrang, meinte aber doch, daß Parla-
mentsbeschlüssc, die gegen die Vernunft oder das Naturrecht verstießen, nichtig
seien. Der Oberrichter Holt sagte auf der Richterbank, eine Parlamentsacte,
die verordne, daß jemand Richter und Partei in einer Person sein könne, würde
migiltig sein. Coke wollte ein Statut nur dann für giltig angesehen wissen,
wen" es unter Zustimmung des ganzen Reiches und zu dessen gemeinem Besten
gemacht sei. Fälle, daß die Gerichte die Anerkennung eines Parlamentsbeschlusses
verweigerten, weil es dem gemeinen Rechte zuwiderlause, sind in älterer Zeit
'niederholt vorgekommen. Heute aber giebt es Parlamentsmitglieder, die "für
ein Gesetz halten, was vom Drucker der Königin gedruckt ist," und Richter,
die wenigstens darnach verfahren.

Das älteste Statut Englands ist die Magna Charta von 1216, ein Friedens¬
schluß zwischen Krone und Volk, das Gelöbniß des Königs Johann, eine Reihe
von Gesetzen, die er gebrochen, nicht wieder zu brechen. "Schon der Titel
Charter zeigt, daß man sich das Document, das erstaunlich reichen und con-
creten Inhalts ist und für alle Klassen sorgt, als eine Aufzeichnung von Ge¬
setzen dachte, die das Volk sich gegeben und der König als oberster Wächter
des Rechtes richtig befunden und ausgefertigt habe. Alle spätern Zeiten haben
diese Charte als Erneuerung des Bundes zwischen Krone und Volk und als
authentisches Zeugniß für das gemeine Recht, also als etwas anderes betrachtet
als ein gewöhnliches Gesetz. Es war in den Schutz der Kirche gestellt, deren


Entwicklung der großen einfachen Principien, des gemeinen Rechtes, nicht zu
deren Zerstörung zu dienen bestimmt war. Das Parlament aber empfand gleich
allen delegirteu Gewalten die Neigung, seinen Auftrag in ein selbständiges Recht
zu verwandeln und seine Interessen über die des Volkes zu stellen. Wenn die
Entwicklung nach dieser Richtung langsam gegangen ist und sich erst jetzt voll¬
endet, so erklärt sich das aus den Vorkehrungen, die das gemeine Recht gegen
diese Gefahr getroffen hatte. Die bezeichnete Neigung ist immer vorhanden ge¬
wesen, und die innere wie die äußere Geschichte Englands war ein steter Kampf
des Parlaments gegen das gemeine Recht. „Auch die Geschichte der Krone
liegt in der Definition: ihr Kampf, bald mit dem gemeinen Rechte gegen das
Parlament, bald mit dem Parlamente gegen das gemeine Recht, ihr Sieg, ge¬
feiert durch den Despotismus Elisabeths, ihre Niederlage, vollendet durch den
verunglückten Emaneipatinsversuch Georgs III., die verhänißvolle Wahl, vor
der sie jetzt vielleicht schon nicht mehr steht, nach ihrem alten Recht und ihrer
alten Pflicht als Wächterin der Rechte aller zurückzugreifen oder sich im Stillen
zur Rettung der Gesellschaft zu rüsten."

Wie sich das Parlamentsrecht zum genieinen verhält, ist in England eine
offene Frage. Blackstone gab jenem den Vorrang, meinte aber doch, daß Parla-
mentsbeschlüssc, die gegen die Vernunft oder das Naturrecht verstießen, nichtig
seien. Der Oberrichter Holt sagte auf der Richterbank, eine Parlamentsacte,
die verordne, daß jemand Richter und Partei in einer Person sein könne, würde
migiltig sein. Coke wollte ein Statut nur dann für giltig angesehen wissen,
wen» es unter Zustimmung des ganzen Reiches und zu dessen gemeinem Besten
gemacht sei. Fälle, daß die Gerichte die Anerkennung eines Parlamentsbeschlusses
verweigerten, weil es dem gemeinen Rechte zuwiderlause, sind in älterer Zeit
'niederholt vorgekommen. Heute aber giebt es Parlamentsmitglieder, die „für
ein Gesetz halten, was vom Drucker der Königin gedruckt ist," und Richter,
die wenigstens darnach verfahren.

Das älteste Statut Englands ist die Magna Charta von 1216, ein Friedens¬
schluß zwischen Krone und Volk, das Gelöbniß des Königs Johann, eine Reihe
von Gesetzen, die er gebrochen, nicht wieder zu brechen. „Schon der Titel
Charter zeigt, daß man sich das Document, das erstaunlich reichen und con-
creten Inhalts ist und für alle Klassen sorgt, als eine Aufzeichnung von Ge¬
setzen dachte, die das Volk sich gegeben und der König als oberster Wächter
des Rechtes richtig befunden und ausgefertigt habe. Alle spätern Zeiten haben
diese Charte als Erneuerung des Bundes zwischen Krone und Volk und als
authentisches Zeugniß für das gemeine Recht, also als etwas anderes betrachtet
als ein gewöhnliches Gesetz. Es war in den Schutz der Kirche gestellt, deren


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[0199] Entwicklung der großen einfachen Principien, des gemeinen Rechtes, nicht zu deren Zerstörung zu dienen bestimmt war. Das Parlament aber empfand gleich allen delegirteu Gewalten die Neigung, seinen Auftrag in ein selbständiges Recht zu verwandeln und seine Interessen über die des Volkes zu stellen. Wenn die Entwicklung nach dieser Richtung langsam gegangen ist und sich erst jetzt voll¬ endet, so erklärt sich das aus den Vorkehrungen, die das gemeine Recht gegen diese Gefahr getroffen hatte. Die bezeichnete Neigung ist immer vorhanden ge¬ wesen, und die innere wie die äußere Geschichte Englands war ein steter Kampf des Parlaments gegen das gemeine Recht. „Auch die Geschichte der Krone liegt in der Definition: ihr Kampf, bald mit dem gemeinen Rechte gegen das Parlament, bald mit dem Parlamente gegen das gemeine Recht, ihr Sieg, ge¬ feiert durch den Despotismus Elisabeths, ihre Niederlage, vollendet durch den verunglückten Emaneipatinsversuch Georgs III., die verhänißvolle Wahl, vor der sie jetzt vielleicht schon nicht mehr steht, nach ihrem alten Recht und ihrer alten Pflicht als Wächterin der Rechte aller zurückzugreifen oder sich im Stillen zur Rettung der Gesellschaft zu rüsten." Wie sich das Parlamentsrecht zum genieinen verhält, ist in England eine offene Frage. Blackstone gab jenem den Vorrang, meinte aber doch, daß Parla- mentsbeschlüssc, die gegen die Vernunft oder das Naturrecht verstießen, nichtig seien. Der Oberrichter Holt sagte auf der Richterbank, eine Parlamentsacte, die verordne, daß jemand Richter und Partei in einer Person sein könne, würde migiltig sein. Coke wollte ein Statut nur dann für giltig angesehen wissen, wen» es unter Zustimmung des ganzen Reiches und zu dessen gemeinem Besten gemacht sei. Fälle, daß die Gerichte die Anerkennung eines Parlamentsbeschlusses verweigerten, weil es dem gemeinen Rechte zuwiderlause, sind in älterer Zeit 'niederholt vorgekommen. Heute aber giebt es Parlamentsmitglieder, die „für ein Gesetz halten, was vom Drucker der Königin gedruckt ist," und Richter, die wenigstens darnach verfahren. Das älteste Statut Englands ist die Magna Charta von 1216, ein Friedens¬ schluß zwischen Krone und Volk, das Gelöbniß des Königs Johann, eine Reihe von Gesetzen, die er gebrochen, nicht wieder zu brechen. „Schon der Titel Charter zeigt, daß man sich das Document, das erstaunlich reichen und con- creten Inhalts ist und für alle Klassen sorgt, als eine Aufzeichnung von Ge¬ setzen dachte, die das Volk sich gegeben und der König als oberster Wächter des Rechtes richtig befunden und ausgefertigt habe. Alle spätern Zeiten haben diese Charte als Erneuerung des Bundes zwischen Krone und Volk und als authentisches Zeugniß für das gemeine Recht, also als etwas anderes betrachtet als ein gewöhnliches Gesetz. Es war in den Schutz der Kirche gestellt, deren

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157697/199>, abgerufen am 27.12.2024.