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Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Erstes Quartal.

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Die Reformationen in der christlichen Welt.

Christenmenschen abhängig gemacht werden dürfe, daß endlich überhaupt das
Beseligende des Christenglaubens nur bestehe in der theoretischen und prak¬
tischen Anerkennung der göttlichen Offenbarung in Christus und der christlichen
Weltordnung -- das alles wird mit aller Bestimmtheit behauptet, als unan¬
fechtbare Position und Forderung aufgestellt. Und welcher denkende Christ wird
auch einem dieser Sätze die seit einem Jahrhundert uuter vielen Kämpfen er¬
rungene Berechtigung bestricken?

Allein andererseits wird zugegeben, daß in alle Wege in der Bibel, freilich
auch in andern Schriften alter und neuer Zeit, das Wort Gottes enthalten
sei, daß göttliche Manifestationen und Inspirationen darin berichtet seien und
in diesen und jenen Persönlichkeiten, Anstalten und Wahrheiten thatsächlich vor¬
liegen, daß der Werth eines Menschen allerdings einzig nach seiner Stellung
zu diesen sittlich-religiösen Wahrheiten zu bemessen und um so höher zu achten
sei, je mehr dieselben in seinem Thun und Lassen sich ausprägen. Noch mehr:
es wird laut oder leise eingestanden, daß es mehr Dinge im Himmel und auf
Erden gebe, als unsere Schulweisheit sich träumen läßt, denen wir nur mit
einem iMorawus gegenüberstehen, ja daß der Mensch bei diesem Nichtwissen
sich denn doch unmöglich beruhigt fühlen, vom Standpunkte des Erkennens und
Wissens aus zu einer völlig richtigen und befriedigenden Weltanschauung nicht
gelangen könne, daß es also neben dem Wissen ein geistiges Lebensgebiet, ein
Glauben, ein religiöses Fühlen, Wollen und Streben gebe, das einen wesentlichen
Bestandtheil der menschlichen Natur, ein unabweisliches Postulat auch der Ver¬
nunft und auch die stärkste Lebensnacht, den "Sonntag", wie Hegel sagt, in der
Geschichte fast aller Culturvölker bilde, daß insbesondere der Gott der christ¬
lichen Offenbarung und der Glaube an ihn eine Triebkraft zu einen? menschen¬
würdigen sittlichen Leben besitze, wie sie stärker und reiner kaum gedacht werden
könne, jedenfalls nirgends sonst in gleichem Grade geboten sei. Und endlich
stellt kein billig denkender, wenn er auch der sogenannten Orthodoxie noch so
ferne steht, in Abrede, daß einer Menge echt humaner Bestrebungen und Liebes¬
werke, welche gerade auf dem Boden des alten Glaubens ganz besonders in
unseru Tagen erwachsen sind, volle Achtung und Nachachtung gebühre.

Dutzende von Schristen nur aus dem letzten Jahrzehnt ließen sich zum
Beleg für die eben zusammengestellten Sätze anführen, und zwar keineswegs
nur vom freisinnigen Theologen, sondern von Philosophen, Naturforschern und
Staatsmännern verfaßt und sämmtlich dein Zwecke dienend, in dem Streite
zwischen Wissen und Glauben, zwischen moderner Cultur und christlicher Weltan¬
schauung das lösende Friedenswvrt zu sprechen.

Zeugnisse dafür, wie falsch die Meinung ist, daß in der allgemeinen Rich¬
tung der Zeit nur eine der vollen Erfassung des Christenthums feindliche Stro-


Die Reformationen in der christlichen Welt.

Christenmenschen abhängig gemacht werden dürfe, daß endlich überhaupt das
Beseligende des Christenglaubens nur bestehe in der theoretischen und prak¬
tischen Anerkennung der göttlichen Offenbarung in Christus und der christlichen
Weltordnung — das alles wird mit aller Bestimmtheit behauptet, als unan¬
fechtbare Position und Forderung aufgestellt. Und welcher denkende Christ wird
auch einem dieser Sätze die seit einem Jahrhundert uuter vielen Kämpfen er¬
rungene Berechtigung bestricken?

Allein andererseits wird zugegeben, daß in alle Wege in der Bibel, freilich
auch in andern Schriften alter und neuer Zeit, das Wort Gottes enthalten
sei, daß göttliche Manifestationen und Inspirationen darin berichtet seien und
in diesen und jenen Persönlichkeiten, Anstalten und Wahrheiten thatsächlich vor¬
liegen, daß der Werth eines Menschen allerdings einzig nach seiner Stellung
zu diesen sittlich-religiösen Wahrheiten zu bemessen und um so höher zu achten
sei, je mehr dieselben in seinem Thun und Lassen sich ausprägen. Noch mehr:
es wird laut oder leise eingestanden, daß es mehr Dinge im Himmel und auf
Erden gebe, als unsere Schulweisheit sich träumen läßt, denen wir nur mit
einem iMorawus gegenüberstehen, ja daß der Mensch bei diesem Nichtwissen
sich denn doch unmöglich beruhigt fühlen, vom Standpunkte des Erkennens und
Wissens aus zu einer völlig richtigen und befriedigenden Weltanschauung nicht
gelangen könne, daß es also neben dem Wissen ein geistiges Lebensgebiet, ein
Glauben, ein religiöses Fühlen, Wollen und Streben gebe, das einen wesentlichen
Bestandtheil der menschlichen Natur, ein unabweisliches Postulat auch der Ver¬
nunft und auch die stärkste Lebensnacht, den „Sonntag", wie Hegel sagt, in der
Geschichte fast aller Culturvölker bilde, daß insbesondere der Gott der christ¬
lichen Offenbarung und der Glaube an ihn eine Triebkraft zu einen? menschen¬
würdigen sittlichen Leben besitze, wie sie stärker und reiner kaum gedacht werden
könne, jedenfalls nirgends sonst in gleichem Grade geboten sei. Und endlich
stellt kein billig denkender, wenn er auch der sogenannten Orthodoxie noch so
ferne steht, in Abrede, daß einer Menge echt humaner Bestrebungen und Liebes¬
werke, welche gerade auf dem Boden des alten Glaubens ganz besonders in
unseru Tagen erwachsen sind, volle Achtung und Nachachtung gebühre.

Dutzende von Schristen nur aus dem letzten Jahrzehnt ließen sich zum
Beleg für die eben zusammengestellten Sätze anführen, und zwar keineswegs
nur vom freisinnigen Theologen, sondern von Philosophen, Naturforschern und
Staatsmännern verfaßt und sämmtlich dein Zwecke dienend, in dem Streite
zwischen Wissen und Glauben, zwischen moderner Cultur und christlicher Weltan¬
schauung das lösende Friedenswvrt zu sprechen.

Zeugnisse dafür, wie falsch die Meinung ist, daß in der allgemeinen Rich¬
tung der Zeit nur eine der vollen Erfassung des Christenthums feindliche Stro-


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[0152] Die Reformationen in der christlichen Welt. Christenmenschen abhängig gemacht werden dürfe, daß endlich überhaupt das Beseligende des Christenglaubens nur bestehe in der theoretischen und prak¬ tischen Anerkennung der göttlichen Offenbarung in Christus und der christlichen Weltordnung — das alles wird mit aller Bestimmtheit behauptet, als unan¬ fechtbare Position und Forderung aufgestellt. Und welcher denkende Christ wird auch einem dieser Sätze die seit einem Jahrhundert uuter vielen Kämpfen er¬ rungene Berechtigung bestricken? Allein andererseits wird zugegeben, daß in alle Wege in der Bibel, freilich auch in andern Schriften alter und neuer Zeit, das Wort Gottes enthalten sei, daß göttliche Manifestationen und Inspirationen darin berichtet seien und in diesen und jenen Persönlichkeiten, Anstalten und Wahrheiten thatsächlich vor¬ liegen, daß der Werth eines Menschen allerdings einzig nach seiner Stellung zu diesen sittlich-religiösen Wahrheiten zu bemessen und um so höher zu achten sei, je mehr dieselben in seinem Thun und Lassen sich ausprägen. Noch mehr: es wird laut oder leise eingestanden, daß es mehr Dinge im Himmel und auf Erden gebe, als unsere Schulweisheit sich träumen läßt, denen wir nur mit einem iMorawus gegenüberstehen, ja daß der Mensch bei diesem Nichtwissen sich denn doch unmöglich beruhigt fühlen, vom Standpunkte des Erkennens und Wissens aus zu einer völlig richtigen und befriedigenden Weltanschauung nicht gelangen könne, daß es also neben dem Wissen ein geistiges Lebensgebiet, ein Glauben, ein religiöses Fühlen, Wollen und Streben gebe, das einen wesentlichen Bestandtheil der menschlichen Natur, ein unabweisliches Postulat auch der Ver¬ nunft und auch die stärkste Lebensnacht, den „Sonntag", wie Hegel sagt, in der Geschichte fast aller Culturvölker bilde, daß insbesondere der Gott der christ¬ lichen Offenbarung und der Glaube an ihn eine Triebkraft zu einen? menschen¬ würdigen sittlichen Leben besitze, wie sie stärker und reiner kaum gedacht werden könne, jedenfalls nirgends sonst in gleichem Grade geboten sei. Und endlich stellt kein billig denkender, wenn er auch der sogenannten Orthodoxie noch so ferne steht, in Abrede, daß einer Menge echt humaner Bestrebungen und Liebes¬ werke, welche gerade auf dem Boden des alten Glaubens ganz besonders in unseru Tagen erwachsen sind, volle Achtung und Nachachtung gebühre. Dutzende von Schristen nur aus dem letzten Jahrzehnt ließen sich zum Beleg für die eben zusammengestellten Sätze anführen, und zwar keineswegs nur vom freisinnigen Theologen, sondern von Philosophen, Naturforschern und Staatsmännern verfaßt und sämmtlich dein Zwecke dienend, in dem Streite zwischen Wissen und Glauben, zwischen moderner Cultur und christlicher Weltan¬ schauung das lösende Friedenswvrt zu sprechen. Zeugnisse dafür, wie falsch die Meinung ist, daß in der allgemeinen Rich¬ tung der Zeit nur eine der vollen Erfassung des Christenthums feindliche Stro-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157697/152>, abgerufen am 28.12.2024.