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Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Erstes Quartal.

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?>le Reformationen in der christlichen Welt,

sche, wissenschaftliche und erbauliche Literatur der letzten Jahrzehnte Beispiele
in Menge, daß selbst die entschiedensten Vertreter und Verfechter des sogenann¬
ten gläubigen Standpunkts schon eine gute Weile aufgehört haben, die Berech¬
tigung einer mit ehrlichen Waffen auftretenden Kritik sowie einer geistigeren Fassung
der Lehre von der Göttlichkeit der Heiligen Schrift so schroff abzuweisen, wie
es früher auf der ganzen Linie dieser rechten und conservativen Partei gäng
und gäbe war. Und auch wo auf Festhaltung der Fundamentalartikel des
christlichen Glaubens strenge bestanden wird, hütet man sich auf Kanzel und
Katheder wohl, die Spitzfindigkeiten der alten Glaubenslehre irgendwie einge¬
hend zu behandeln und zu behaupten oder auf Stricker Annahme sämmtlicher
Glaubensbekenntnisse als bindender Normen selbst für die Geistlichen zu be¬
stehen. Orthodoxie und Symbolzwang in, Sinne früherer Zeiten existiren nicht
mehr und sind in unserm kirchlichen Leben außer Curs gesetzt. Wenn sich
Rechtgläubigkeit nicht zugleich thatsächlich erweist und bewährt, hat sie auch in
ihren eigenen Kreisen keinen Werth mehr und darf keinen Anspruch auf Ach¬
tung, kaum Beachtung, mehr erheben. Mit größter Entschiedenheit dagegen for¬
dert und bethätigt man eben in diesen Kreisen einen in Liebe thätigen Glauben,
im umfassendsten Maße und mit aufopferndster Hingabe. Wir meinen die kräftigen
Lebensüußerungen, welche unsere Kirche in neuester Zeit, die mit Fug und Recht
das Jahrhundert der äußern und innern Mission heißen kann, und zwar un¬
streitig gerade von dem genannten Centrum aus, durch Fürsorge für Arme,
Verwahrloste, für Heiden innerhalb und außerhalb der Kirche, für Bibelver¬
breitung u. a. entfaltet.

Beweise ähnlicher Art für diese unsere gute Zuversicht liefert aber auch
die entgegengesetzte Seite des kirchlichen Hauses, die des liberalen Protestantis¬
mus, von dem der Protestantenverein eine beachtenswerthe Fraction bildet.
Zwar stehen den von den Anhängern des Alten zähe festgehaltenen Forderungen
hier ebenso entschiedene Postulate gegenüber. Man verlangt, daß anerkannt werde,
eine die edle Gottesgabe der Vernunft und Wissenschaft verachtende Theologie
sei ein Unding; man nimmt die Berechtigung zur historischen Kritik des alten und
neuen Testaments sowie zur wissenschaftlichen Fassung der Glaubens- und Sitten¬
lehre in vollem Maße in Anspruch: man erklärt den alten Jnspirationsbegriff
für eine biblisch unbegründete Menschensatzuug, welche im Grunde schon unsere
Reformatoren thatsächlich nicht anerkannt haben und welche sie, wenn sie hente
vom Grabe erstünden, so gut als die päpstlichen Satzungen ihrer Zeit für abgethan
erklären würden. Daß dem evangelischen Glauben nicht zugemuthet werden
dürfe, alle in der Bibel erzählten Wunder buchstäblich und als wirkliche That¬
sachen anzunehmen, daß davon so wenig als von der Stellung zu den in den
Bekenntnissen niedergelegten Glaubenswahrheiten als solchen der Werth des


?>le Reformationen in der christlichen Welt,

sche, wissenschaftliche und erbauliche Literatur der letzten Jahrzehnte Beispiele
in Menge, daß selbst die entschiedensten Vertreter und Verfechter des sogenann¬
ten gläubigen Standpunkts schon eine gute Weile aufgehört haben, die Berech¬
tigung einer mit ehrlichen Waffen auftretenden Kritik sowie einer geistigeren Fassung
der Lehre von der Göttlichkeit der Heiligen Schrift so schroff abzuweisen, wie
es früher auf der ganzen Linie dieser rechten und conservativen Partei gäng
und gäbe war. Und auch wo auf Festhaltung der Fundamentalartikel des
christlichen Glaubens strenge bestanden wird, hütet man sich auf Kanzel und
Katheder wohl, die Spitzfindigkeiten der alten Glaubenslehre irgendwie einge¬
hend zu behandeln und zu behaupten oder auf Stricker Annahme sämmtlicher
Glaubensbekenntnisse als bindender Normen selbst für die Geistlichen zu be¬
stehen. Orthodoxie und Symbolzwang in, Sinne früherer Zeiten existiren nicht
mehr und sind in unserm kirchlichen Leben außer Curs gesetzt. Wenn sich
Rechtgläubigkeit nicht zugleich thatsächlich erweist und bewährt, hat sie auch in
ihren eigenen Kreisen keinen Werth mehr und darf keinen Anspruch auf Ach¬
tung, kaum Beachtung, mehr erheben. Mit größter Entschiedenheit dagegen for¬
dert und bethätigt man eben in diesen Kreisen einen in Liebe thätigen Glauben,
im umfassendsten Maße und mit aufopferndster Hingabe. Wir meinen die kräftigen
Lebensüußerungen, welche unsere Kirche in neuester Zeit, die mit Fug und Recht
das Jahrhundert der äußern und innern Mission heißen kann, und zwar un¬
streitig gerade von dem genannten Centrum aus, durch Fürsorge für Arme,
Verwahrloste, für Heiden innerhalb und außerhalb der Kirche, für Bibelver¬
breitung u. a. entfaltet.

Beweise ähnlicher Art für diese unsere gute Zuversicht liefert aber auch
die entgegengesetzte Seite des kirchlichen Hauses, die des liberalen Protestantis¬
mus, von dem der Protestantenverein eine beachtenswerthe Fraction bildet.
Zwar stehen den von den Anhängern des Alten zähe festgehaltenen Forderungen
hier ebenso entschiedene Postulate gegenüber. Man verlangt, daß anerkannt werde,
eine die edle Gottesgabe der Vernunft und Wissenschaft verachtende Theologie
sei ein Unding; man nimmt die Berechtigung zur historischen Kritik des alten und
neuen Testaments sowie zur wissenschaftlichen Fassung der Glaubens- und Sitten¬
lehre in vollem Maße in Anspruch: man erklärt den alten Jnspirationsbegriff
für eine biblisch unbegründete Menschensatzuug, welche im Grunde schon unsere
Reformatoren thatsächlich nicht anerkannt haben und welche sie, wenn sie hente
vom Grabe erstünden, so gut als die päpstlichen Satzungen ihrer Zeit für abgethan
erklären würden. Daß dem evangelischen Glauben nicht zugemuthet werden
dürfe, alle in der Bibel erzählten Wunder buchstäblich und als wirkliche That¬
sachen anzunehmen, daß davon so wenig als von der Stellung zu den in den
Bekenntnissen niedergelegten Glaubenswahrheiten als solchen der Werth des


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157697/151>, abgerufen am 28.12.2024.