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Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Erstes Quartal.

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unterfangen hat. Als ob wir noch Zeit- und Gesinnungsgenossen jenes Dia¬
konus wären, der aus hoher Verehrung dieser Bekenntnißschrift von den zwei
ihm gebornen Töchterchen das eine Formula, das andere Concordia getauft
haben soll. Eher wäre ja das Jahr 1580 mit seinem Symbol, durch welches
die Trennung der zwei evangelischen Schwesterkirchen besiegelt worden ist, mit
einem Trauerfeste zu feiern. Denn hiermit ward auch der Sieg der alten Kirche
uuter dem Banner der Jesuiten und das Ende des Wachsthums unserer Kirche
verbrieft. "Der Protestantismus wird ja, wie Hase sagt, sogleich machtlos,
sobald er seiner selbst vergißt."

Doch ganz und gar seiner selbst vergessen hat er nicht. Freilich ließ die
schwere Zeit des dreißigjährigen Kriegs und das Jahrhundert nach demselben
die schöpferischen Kräfte der germanischen Nation, der Mutter der zweiten und
dritten Reformation, nahezu ersterben. Fast nur im geistlichen Liede erhielt
sich das in bessern Tagen geschaffene, obschon die Oede der damaligen evan¬
gelischen Orthodoxie selbst einen der begabtesten Dichter dieser Art, den An-
gelus Silesius (geht. 1677), in das Lager der andern Kirche getrieben hat.
Allein das im fünfzehnten Jahrhundert begonnene Werk trug so kräftige weitere
Lebenskeime in sich, daß es, so unfertig es geblieben und fo geistesarm es ge¬
worden war, dennoch gerade durch seine Mängel und Lücken zur fernern Vollen¬
dung drängte. Mit innerer Nothwendigkeit mußte es zu einer nochmaligen Er¬
neuerung, zu einer vierten Reformation kommen.

In Luthers Wesen und Werk erscheinen für jede tiefer eindringende Beob¬
achtung zwei scheinbar wiedersprechende und in der That nicht zu völligem
Einklange gekommene Elemente: ein protestirendes, negirendes, kritisches und
ein ponirendes, mystisches, das vornehmlich in dem zähen Festhalten des Ge¬
heimnißvollen im Abendmahle gegenüber dem Schweizer Reformator, aber auch
sonst vielfach, bei ihm nicht zu verkennen ist. Nun gerade dieser doppelte, auch
seiner Kirche einverleibte Sinn und Trieb trat in den zwei einflußreichsten,
gleichfalls ganz entgegengesetzten Erscheinungen derselben im 18. Jahrhundert,
im Pietismus und Rationalismus, zu Tage.

So gewiß diese zwei Richtungen der evangelischen Kirche in Wissenschaft
und Leben in direktem Gegensatze stehen, wie denn die Geister derselben beider¬
seits oft genug scharf auf einander geplatzt find, ebenso gewiß ist es, daß unsere
Kirche nur dann erst eine erfreuliche Wiedergeburt feiern und wiederum eine
anziehende und imponirende Gestalt gewinnen wird, wenn sie die Berechtigung
dieser ihrer zwei Lebenselemente anerkennt, wenn das eine wie das andere seine
Kraft in ihr entfalten und bewähren darf, sie sich gegenseitig achten lernen und
auch im Streite jedes unter dem Visir des andern die Bruderzüge zu erkennen
vermag. Die neue Reformation muß in der Diagonale dieser beiden Kräfte


unterfangen hat. Als ob wir noch Zeit- und Gesinnungsgenossen jenes Dia¬
konus wären, der aus hoher Verehrung dieser Bekenntnißschrift von den zwei
ihm gebornen Töchterchen das eine Formula, das andere Concordia getauft
haben soll. Eher wäre ja das Jahr 1580 mit seinem Symbol, durch welches
die Trennung der zwei evangelischen Schwesterkirchen besiegelt worden ist, mit
einem Trauerfeste zu feiern. Denn hiermit ward auch der Sieg der alten Kirche
uuter dem Banner der Jesuiten und das Ende des Wachsthums unserer Kirche
verbrieft. „Der Protestantismus wird ja, wie Hase sagt, sogleich machtlos,
sobald er seiner selbst vergißt."

Doch ganz und gar seiner selbst vergessen hat er nicht. Freilich ließ die
schwere Zeit des dreißigjährigen Kriegs und das Jahrhundert nach demselben
die schöpferischen Kräfte der germanischen Nation, der Mutter der zweiten und
dritten Reformation, nahezu ersterben. Fast nur im geistlichen Liede erhielt
sich das in bessern Tagen geschaffene, obschon die Oede der damaligen evan¬
gelischen Orthodoxie selbst einen der begabtesten Dichter dieser Art, den An-
gelus Silesius (geht. 1677), in das Lager der andern Kirche getrieben hat.
Allein das im fünfzehnten Jahrhundert begonnene Werk trug so kräftige weitere
Lebenskeime in sich, daß es, so unfertig es geblieben und fo geistesarm es ge¬
worden war, dennoch gerade durch seine Mängel und Lücken zur fernern Vollen¬
dung drängte. Mit innerer Nothwendigkeit mußte es zu einer nochmaligen Er¬
neuerung, zu einer vierten Reformation kommen.

In Luthers Wesen und Werk erscheinen für jede tiefer eindringende Beob¬
achtung zwei scheinbar wiedersprechende und in der That nicht zu völligem
Einklange gekommene Elemente: ein protestirendes, negirendes, kritisches und
ein ponirendes, mystisches, das vornehmlich in dem zähen Festhalten des Ge¬
heimnißvollen im Abendmahle gegenüber dem Schweizer Reformator, aber auch
sonst vielfach, bei ihm nicht zu verkennen ist. Nun gerade dieser doppelte, auch
seiner Kirche einverleibte Sinn und Trieb trat in den zwei einflußreichsten,
gleichfalls ganz entgegengesetzten Erscheinungen derselben im 18. Jahrhundert,
im Pietismus und Rationalismus, zu Tage.

So gewiß diese zwei Richtungen der evangelischen Kirche in Wissenschaft
und Leben in direktem Gegensatze stehen, wie denn die Geister derselben beider¬
seits oft genug scharf auf einander geplatzt find, ebenso gewiß ist es, daß unsere
Kirche nur dann erst eine erfreuliche Wiedergeburt feiern und wiederum eine
anziehende und imponirende Gestalt gewinnen wird, wenn sie die Berechtigung
dieser ihrer zwei Lebenselemente anerkennt, wenn das eine wie das andere seine
Kraft in ihr entfalten und bewähren darf, sie sich gegenseitig achten lernen und
auch im Streite jedes unter dem Visir des andern die Bruderzüge zu erkennen
vermag. Die neue Reformation muß in der Diagonale dieser beiden Kräfte


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157697/149>, abgerufen am 27.12.2024.