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Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Erstes Quartal.

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Die Reformationen in der christlichen Joell.

welchem die geschichtliche Wahrheit, diese unerbittliche Richterin der morschen
Säulen seines Ursprungs und Bestands, über alles geht, und welches anfängt,
dem Grundsatz: maZIs s-wica vsriws selbst in der Politik, wie viel mehr in
der Wissenschaft und in der Kirche die Ehre zu geben, die ihm unter Völkern,
welche Christen heißen, gebührt.

Doch die "böhmische Gans, welche der Fanatismus auf dem Scheiterhaufen
zu Constanz gebraten hatte," ist gerade ein Jahrhundert darnach als Schwan
wieder auferstanden. Die deutsche Reformation hat die Kirche aus der Ob-
mcicht des Papstes und selbsterwählter Menschensatzungen befreit, sie zurückge¬
führt auf das Fundament des christlichen Gewissens und des Wortes Gottes
in der Schrift, sie wahrhaftiglich erneuert durch das Losungswort, daß einzig
der Glaube selig mache, d. h. die Hingabe des Herzens an den in Christus
geoffenbarten Gott. Und weil damit wiederum eine Protestation des Geistes
des Christenthums selbst ausgesprochen, eine ewige Wahrheit den Völkern der
Neuzeit geboten worden ist, hat auch diese dritte Reformation, wie die erste,
als gelungene und gewordene, als ein nicht mehr verlierbares Gut der christ¬
lichen Welt zu gelten.

Allein das errungene Kleinod ward alsbald von den nachgebornen nicht
bloß durch schlechte Fassung, sondern in seinem Kerne selbst entstellt und in
den Staub menschlicher Engherzigkeit und Leidenschaft herabgezogen. Die in
den Tagen der Reformation mit dem freien Geiste eines Christenmenschen ge-
handhabte Werthschätzung der Heiligen Schrift erstarrte in ängstlichem Buch¬
stabendienst, der allein seligmachende Glaube in blinder Annahme der von der
alten und neuen Kirche aufgestellten Glaubensformeln; an der Stelle des
römischen Papstes ward ein papierner auf den Thron gesetzt, durch Ueber¬
spannung theils des Begriffs von der Göttlichkeit der Bibel bis ins Einzelnste
und Kleinste hinaus, theils der Bedeutung der alten und neuen Glaubensbe¬
kenntnisse; endlich ging in dem fürstlichen Herrscherrecht auch das gesunde
demokratische Element des evangelischen Glaubens für das christliche Volk,
aus dem doch die Reformation hervorgegangen war, verloren. Noch bevor
das 16. Jahrhundert zur Neige ging, war die lebensfrische Gestalt der
protestantischen Kirche zu einem blutarmen, flügellahmen und verknöcherten
Gerippe geworden. Das Vaterland der Reformation erscholl von häßlichem
Gezänke seiner Theologen und mußte unter anderm das Blut eines ver¬
dienten Staatsmannes trinken, den ein Glaubensgericht zu zehnjährigein
Gefängniß und zum Tode verurtheilte, weil er sich weigerte, die calvinistische
Lehre zu verfluchen und die Einheitsformel zu unterschreiben, diese lormula
eonooMas oder vielmehr üisoorÄig", deren dreihundertjährige Jubelfeier man
(o "auots, siwx!ioits8!) im Jahre 1880 im Schwabenlande zu begehen sich


Die Reformationen in der christlichen Joell.

welchem die geschichtliche Wahrheit, diese unerbittliche Richterin der morschen
Säulen seines Ursprungs und Bestands, über alles geht, und welches anfängt,
dem Grundsatz: maZIs s-wica vsriws selbst in der Politik, wie viel mehr in
der Wissenschaft und in der Kirche die Ehre zu geben, die ihm unter Völkern,
welche Christen heißen, gebührt.

Doch die „böhmische Gans, welche der Fanatismus auf dem Scheiterhaufen
zu Constanz gebraten hatte," ist gerade ein Jahrhundert darnach als Schwan
wieder auferstanden. Die deutsche Reformation hat die Kirche aus der Ob-
mcicht des Papstes und selbsterwählter Menschensatzungen befreit, sie zurückge¬
führt auf das Fundament des christlichen Gewissens und des Wortes Gottes
in der Schrift, sie wahrhaftiglich erneuert durch das Losungswort, daß einzig
der Glaube selig mache, d. h. die Hingabe des Herzens an den in Christus
geoffenbarten Gott. Und weil damit wiederum eine Protestation des Geistes
des Christenthums selbst ausgesprochen, eine ewige Wahrheit den Völkern der
Neuzeit geboten worden ist, hat auch diese dritte Reformation, wie die erste,
als gelungene und gewordene, als ein nicht mehr verlierbares Gut der christ¬
lichen Welt zu gelten.

Allein das errungene Kleinod ward alsbald von den nachgebornen nicht
bloß durch schlechte Fassung, sondern in seinem Kerne selbst entstellt und in
den Staub menschlicher Engherzigkeit und Leidenschaft herabgezogen. Die in
den Tagen der Reformation mit dem freien Geiste eines Christenmenschen ge-
handhabte Werthschätzung der Heiligen Schrift erstarrte in ängstlichem Buch¬
stabendienst, der allein seligmachende Glaube in blinder Annahme der von der
alten und neuen Kirche aufgestellten Glaubensformeln; an der Stelle des
römischen Papstes ward ein papierner auf den Thron gesetzt, durch Ueber¬
spannung theils des Begriffs von der Göttlichkeit der Bibel bis ins Einzelnste
und Kleinste hinaus, theils der Bedeutung der alten und neuen Glaubensbe¬
kenntnisse; endlich ging in dem fürstlichen Herrscherrecht auch das gesunde
demokratische Element des evangelischen Glaubens für das christliche Volk,
aus dem doch die Reformation hervorgegangen war, verloren. Noch bevor
das 16. Jahrhundert zur Neige ging, war die lebensfrische Gestalt der
protestantischen Kirche zu einem blutarmen, flügellahmen und verknöcherten
Gerippe geworden. Das Vaterland der Reformation erscholl von häßlichem
Gezänke seiner Theologen und mußte unter anderm das Blut eines ver¬
dienten Staatsmannes trinken, den ein Glaubensgericht zu zehnjährigein
Gefängniß und zum Tode verurtheilte, weil er sich weigerte, die calvinistische
Lehre zu verfluchen und die Einheitsformel zu unterschreiben, diese lormula
eonooMas oder vielmehr üisoorÄig«, deren dreihundertjährige Jubelfeier man
(o »auots, siwx!ioits8!) im Jahre 1880 im Schwabenlande zu begehen sich


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[0148] Die Reformationen in der christlichen Joell. welchem die geschichtliche Wahrheit, diese unerbittliche Richterin der morschen Säulen seines Ursprungs und Bestands, über alles geht, und welches anfängt, dem Grundsatz: maZIs s-wica vsriws selbst in der Politik, wie viel mehr in der Wissenschaft und in der Kirche die Ehre zu geben, die ihm unter Völkern, welche Christen heißen, gebührt. Doch die „böhmische Gans, welche der Fanatismus auf dem Scheiterhaufen zu Constanz gebraten hatte," ist gerade ein Jahrhundert darnach als Schwan wieder auferstanden. Die deutsche Reformation hat die Kirche aus der Ob- mcicht des Papstes und selbsterwählter Menschensatzungen befreit, sie zurückge¬ führt auf das Fundament des christlichen Gewissens und des Wortes Gottes in der Schrift, sie wahrhaftiglich erneuert durch das Losungswort, daß einzig der Glaube selig mache, d. h. die Hingabe des Herzens an den in Christus geoffenbarten Gott. Und weil damit wiederum eine Protestation des Geistes des Christenthums selbst ausgesprochen, eine ewige Wahrheit den Völkern der Neuzeit geboten worden ist, hat auch diese dritte Reformation, wie die erste, als gelungene und gewordene, als ein nicht mehr verlierbares Gut der christ¬ lichen Welt zu gelten. Allein das errungene Kleinod ward alsbald von den nachgebornen nicht bloß durch schlechte Fassung, sondern in seinem Kerne selbst entstellt und in den Staub menschlicher Engherzigkeit und Leidenschaft herabgezogen. Die in den Tagen der Reformation mit dem freien Geiste eines Christenmenschen ge- handhabte Werthschätzung der Heiligen Schrift erstarrte in ängstlichem Buch¬ stabendienst, der allein seligmachende Glaube in blinder Annahme der von der alten und neuen Kirche aufgestellten Glaubensformeln; an der Stelle des römischen Papstes ward ein papierner auf den Thron gesetzt, durch Ueber¬ spannung theils des Begriffs von der Göttlichkeit der Bibel bis ins Einzelnste und Kleinste hinaus, theils der Bedeutung der alten und neuen Glaubensbe¬ kenntnisse; endlich ging in dem fürstlichen Herrscherrecht auch das gesunde demokratische Element des evangelischen Glaubens für das christliche Volk, aus dem doch die Reformation hervorgegangen war, verloren. Noch bevor das 16. Jahrhundert zur Neige ging, war die lebensfrische Gestalt der protestantischen Kirche zu einem blutarmen, flügellahmen und verknöcherten Gerippe geworden. Das Vaterland der Reformation erscholl von häßlichem Gezänke seiner Theologen und mußte unter anderm das Blut eines ver¬ dienten Staatsmannes trinken, den ein Glaubensgericht zu zehnjährigein Gefängniß und zum Tode verurtheilte, weil er sich weigerte, die calvinistische Lehre zu verfluchen und die Einheitsformel zu unterschreiben, diese lormula eonooMas oder vielmehr üisoorÄig«, deren dreihundertjährige Jubelfeier man (o »auots, siwx!ioits8!) im Jahre 1880 im Schwabenlande zu begehen sich

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157697/148>, abgerufen am 27.12.2024.