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Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Erstes Quartal.

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Die destructiven Elemente im Staate.

hilft, eine zweite in den Kopf. Schließlich kennt ihn jeder Mensch auf der
Straße, die Polizei natürlich ausgenommen. Man kann sich nicht vorstellen,
welche Rolle die Furcht vor Flintenschüssen, angezündeten Häusern u. s. w. in
Palermo bei allen Transactionen, bei allen Geschäften, Ehen, Kindtaufen, Beicht¬
väterwahlen, in allen möglichen Dingen spielt. Es wagt kaum jemand auf ein
Grundstück zu bieten, wenn man weiß, daß die Mafiosi es haben wollen.
Charakteristisch ist es, daß der Sicilianer dem anerkannten Schurken wirklichen
Respect zollt, wenn dieser nur seine Macht zeigt. Wir erwähnten den Principe,
der ein Dutzend Strolche, die ihn angefallen, meuchlings und einzeln erschießen
ließ. Das Publicum bemerkt zu solchem verbrecherischen Verfahren einfach:
"Der ist jetzt ziemlich sicher; die Leute wissen, daß er nicht mit sich spaßen läßt."

Was in Palermo die Mafia, ist in Neapel die Camorra. Die gesetzlose
Vergewaltigung Seitens der Regierungen war in Neapel ebenso an der Tages¬
ordnung wie in Sicilieu. Noch die Bourbonen benutzten die Unzufriedenheit
der ärmsten Bevölkerung Neapels als Regierungsmittel gegen die liberalen
Gelüste der Galantuomini. Das Volk lernte hier wie dort die Gesetzlichkeit
nicht kennen, es lernte nichts anderes respectiren als die Gewalt, Wenns hoch
kam die Höllenstrafen -- und gegen die helfen die Heiligenbilder. Wer den
Muth hatte, gegebenen Falls sich selbst zu helfen und ein Messer zu führen,
konnte sich aus seinem Elend herausheben, indem er der Camorra beitrat. Das
tiefe materielle und sociale Elend in Neapel ließ bei den Camvrristen die Ge¬
winnsucht als das treibende Motiv hervorstechen, während bei der Mafia in
Sicilien die Herrschsucht die leitende Rolle spielte. Hier war mehr Stolz, dort
mehr Spitzbüberei anzutreffen, aber die Ursache war hier wie dort dieselbe --
die gesetzlose Gewalt, welche vom Staate geduldet und früher sogar offen ge¬
schützt worden war. Die Camvrristen hatten eine feste Organisation; in der
Hauptstadt befanden sich zwölf Chefs, je einer für die zwölf Stadtviertel; An¬
hänger gab es in allen Ständen bis zum Ministerium. Man nannte Minister
und Prinzen, die von der Camorra besoldet wurden. Auf Verrath stand der
Tod durch Messerstich. Im Gegensatze zur Mafia in Palermo hielten sich aber
die Häupter sorgfältig verborgen. Die Camorra verfuhr ähnlich wie die Mafia.
Sie legte Steuern auf und beherrschte schließlich den ganzen neapolitanischen
Verkehr. Sie nahm dem Kutscher 20 Procent seiner Trinkgelder ab, sie hatte
einen Abgesandten beim Juwelier, der genau zuhörte, wie viel der Fremde ge¬
zahlt, und sie maß ihm eine Steuer zu, je nach dem Ertrage des Geschäfts. Dem
elenden Lazzarone, der auf dem Molo Karten spielt, schaute sie über die
Schulter, und wenn er drei Bajochi gewonnen hatte, nahm sie ihm einen ab.
Sie war überall vertreten, in der Polizei, wie in den Bureaus des Königs.
Zuweilen half sie den Behörden; sie hat mehr als einen unauffindbaren Mörder


Grenzboten I. 1881. 16
Die destructiven Elemente im Staate.

hilft, eine zweite in den Kopf. Schließlich kennt ihn jeder Mensch auf der
Straße, die Polizei natürlich ausgenommen. Man kann sich nicht vorstellen,
welche Rolle die Furcht vor Flintenschüssen, angezündeten Häusern u. s. w. in
Palermo bei allen Transactionen, bei allen Geschäften, Ehen, Kindtaufen, Beicht¬
väterwahlen, in allen möglichen Dingen spielt. Es wagt kaum jemand auf ein
Grundstück zu bieten, wenn man weiß, daß die Mafiosi es haben wollen.
Charakteristisch ist es, daß der Sicilianer dem anerkannten Schurken wirklichen
Respect zollt, wenn dieser nur seine Macht zeigt. Wir erwähnten den Principe,
der ein Dutzend Strolche, die ihn angefallen, meuchlings und einzeln erschießen
ließ. Das Publicum bemerkt zu solchem verbrecherischen Verfahren einfach:
„Der ist jetzt ziemlich sicher; die Leute wissen, daß er nicht mit sich spaßen läßt."

Was in Palermo die Mafia, ist in Neapel die Camorra. Die gesetzlose
Vergewaltigung Seitens der Regierungen war in Neapel ebenso an der Tages¬
ordnung wie in Sicilieu. Noch die Bourbonen benutzten die Unzufriedenheit
der ärmsten Bevölkerung Neapels als Regierungsmittel gegen die liberalen
Gelüste der Galantuomini. Das Volk lernte hier wie dort die Gesetzlichkeit
nicht kennen, es lernte nichts anderes respectiren als die Gewalt, Wenns hoch
kam die Höllenstrafen — und gegen die helfen die Heiligenbilder. Wer den
Muth hatte, gegebenen Falls sich selbst zu helfen und ein Messer zu führen,
konnte sich aus seinem Elend herausheben, indem er der Camorra beitrat. Das
tiefe materielle und sociale Elend in Neapel ließ bei den Camvrristen die Ge¬
winnsucht als das treibende Motiv hervorstechen, während bei der Mafia in
Sicilien die Herrschsucht die leitende Rolle spielte. Hier war mehr Stolz, dort
mehr Spitzbüberei anzutreffen, aber die Ursache war hier wie dort dieselbe —
die gesetzlose Gewalt, welche vom Staate geduldet und früher sogar offen ge¬
schützt worden war. Die Camvrristen hatten eine feste Organisation; in der
Hauptstadt befanden sich zwölf Chefs, je einer für die zwölf Stadtviertel; An¬
hänger gab es in allen Ständen bis zum Ministerium. Man nannte Minister
und Prinzen, die von der Camorra besoldet wurden. Auf Verrath stand der
Tod durch Messerstich. Im Gegensatze zur Mafia in Palermo hielten sich aber
die Häupter sorgfältig verborgen. Die Camorra verfuhr ähnlich wie die Mafia.
Sie legte Steuern auf und beherrschte schließlich den ganzen neapolitanischen
Verkehr. Sie nahm dem Kutscher 20 Procent seiner Trinkgelder ab, sie hatte
einen Abgesandten beim Juwelier, der genau zuhörte, wie viel der Fremde ge¬
zahlt, und sie maß ihm eine Steuer zu, je nach dem Ertrage des Geschäfts. Dem
elenden Lazzarone, der auf dem Molo Karten spielt, schaute sie über die
Schulter, und wenn er drei Bajochi gewonnen hatte, nahm sie ihm einen ab.
Sie war überall vertreten, in der Polizei, wie in den Bureaus des Königs.
Zuweilen half sie den Behörden; sie hat mehr als einen unauffindbaren Mörder


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[0121] Die destructiven Elemente im Staate. hilft, eine zweite in den Kopf. Schließlich kennt ihn jeder Mensch auf der Straße, die Polizei natürlich ausgenommen. Man kann sich nicht vorstellen, welche Rolle die Furcht vor Flintenschüssen, angezündeten Häusern u. s. w. in Palermo bei allen Transactionen, bei allen Geschäften, Ehen, Kindtaufen, Beicht¬ väterwahlen, in allen möglichen Dingen spielt. Es wagt kaum jemand auf ein Grundstück zu bieten, wenn man weiß, daß die Mafiosi es haben wollen. Charakteristisch ist es, daß der Sicilianer dem anerkannten Schurken wirklichen Respect zollt, wenn dieser nur seine Macht zeigt. Wir erwähnten den Principe, der ein Dutzend Strolche, die ihn angefallen, meuchlings und einzeln erschießen ließ. Das Publicum bemerkt zu solchem verbrecherischen Verfahren einfach: „Der ist jetzt ziemlich sicher; die Leute wissen, daß er nicht mit sich spaßen läßt." Was in Palermo die Mafia, ist in Neapel die Camorra. Die gesetzlose Vergewaltigung Seitens der Regierungen war in Neapel ebenso an der Tages¬ ordnung wie in Sicilieu. Noch die Bourbonen benutzten die Unzufriedenheit der ärmsten Bevölkerung Neapels als Regierungsmittel gegen die liberalen Gelüste der Galantuomini. Das Volk lernte hier wie dort die Gesetzlichkeit nicht kennen, es lernte nichts anderes respectiren als die Gewalt, Wenns hoch kam die Höllenstrafen — und gegen die helfen die Heiligenbilder. Wer den Muth hatte, gegebenen Falls sich selbst zu helfen und ein Messer zu führen, konnte sich aus seinem Elend herausheben, indem er der Camorra beitrat. Das tiefe materielle und sociale Elend in Neapel ließ bei den Camvrristen die Ge¬ winnsucht als das treibende Motiv hervorstechen, während bei der Mafia in Sicilien die Herrschsucht die leitende Rolle spielte. Hier war mehr Stolz, dort mehr Spitzbüberei anzutreffen, aber die Ursache war hier wie dort dieselbe — die gesetzlose Gewalt, welche vom Staate geduldet und früher sogar offen ge¬ schützt worden war. Die Camvrristen hatten eine feste Organisation; in der Hauptstadt befanden sich zwölf Chefs, je einer für die zwölf Stadtviertel; An¬ hänger gab es in allen Ständen bis zum Ministerium. Man nannte Minister und Prinzen, die von der Camorra besoldet wurden. Auf Verrath stand der Tod durch Messerstich. Im Gegensatze zur Mafia in Palermo hielten sich aber die Häupter sorgfältig verborgen. Die Camorra verfuhr ähnlich wie die Mafia. Sie legte Steuern auf und beherrschte schließlich den ganzen neapolitanischen Verkehr. Sie nahm dem Kutscher 20 Procent seiner Trinkgelder ab, sie hatte einen Abgesandten beim Juwelier, der genau zuhörte, wie viel der Fremde ge¬ zahlt, und sie maß ihm eine Steuer zu, je nach dem Ertrage des Geschäfts. Dem elenden Lazzarone, der auf dem Molo Karten spielt, schaute sie über die Schulter, und wenn er drei Bajochi gewonnen hatte, nahm sie ihm einen ab. Sie war überall vertreten, in der Polizei, wie in den Bureaus des Königs. Zuweilen half sie den Behörden; sie hat mehr als einen unauffindbaren Mörder Grenzboten I. 1881. 16

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157697/121>, abgerufen am 27.12.2024.