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Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Erstes Quartal.

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Die destructiven Elemente im Staate,

ihm gegenüberstellt und mächtiger werden kann als er selbst. Nur der sittlichen
Macht ist keine andere Macht gewachsen.

In Italien war seit dem 13. Jahrhundert der Staat kaum etwas anderes
als Macht und Willkür. Fürsten, Städte und Hierarchen bildeten im Grunde
Coterien der Familien- nicht der Staatsinteressen. Von Generation zu Gene¬
ration erstarb in der Brust des armen Mannes immer mehr der Begriff des
Rechts, und an seine Stelle drängte sich der der Gewalt. Vor der Gewalt,
mochte sie Fürst oder Brigant sein, beugte sich alles. Von solcher Gewalt
wurde schon der Dichter der göttlichen Komödie aus seinem Erbe und aus
seiner Vaterstadt vertrieben. Während nun das erlittene Unrecht bei Dante in
den strafenden und zürnenden Weisen seines Iritsrno zum Ausdruck kam, ent¬
fesselte es in der Brust des gemeinen Mannes die Geister gesetzloser und ver¬
brecherischer Leidenschaften. Die gesetzlos organisirte Macht des Staates er¬
zeugte eine andere gesetzlos organisirte Macht wider den Staat, die sich seit
Jahrhunderten in den Räubersystemen der Mafia und Camorm ausbildete,
welche noch heute Spuren in Sicilien und Neapel zurückgelassen haben. Wir
gewahren in den heutigen Zuständen daselbst noch deutlich den Fluch jahrhun-
derte langen Unrechts.*)

Durch jahrhunderte lange Willkür bedrückt, kennt der Sicilianer nur
den Begriff der Gewalt und des persönlichen Einflusses. Die Praxis der
Bestechung und Einschüchterung, d. h. die systematische Ertödtung des Rechts
hat sich hier so ausgebildet, daß der gewöhnliche Mann es ganz in der Ord¬
nung findet, wenn der Reiche und Mächtige durchaus straflos bleibt. Vom
gemeinen Sicilianer kann man noch heute sagen, daß die Begriffe gut und
böse ihm fast fremd geworden sind, und daß er nur vor dem persönlichen Ueber¬
gewicht Respect empfindet. Als Mittel dazu kennt er nur die Selbsthilfe, deren
Ausdruck jene merkwürdige Organisation der Schurkerei ist, welche man in
Palermo Mafia, in Sicilien Malandrinaggio, in Neapel Camorra nennt. Der
Viehraub ist der gewöhnlichste Handstreich der Malandrini. Meilenweit sind
die Flächen menschenleer. Ab und zu kommt ein Städtchen oder ein Feudo,
wie es noch heute heißt, ein großes Gehöft, zum Vorschein. Der Grundbesitzer^
umgeben von einem mittelalterlichen Apparat bewaffneter Diener (Wivxisri)
scheint vollständig gesichert zu sein. Aber eine Anzahl seiner eignen Unter¬
gebenen, seiner Eseltreiber, Holzhacker und kleinen Bauerchen sind Malandrini,
d. h. sie gehören zum geheimen Bunde der Räuber. Anderes Gesindel streift
in den Bergen oder Wäldern umher. Eines Abends haben ihre Freunde die
Wache; schnell sind die Waldbewohner bei der Hand und treiben sechs Stück



*) Im nachstehenden folgen wir theils E. Butte's "Mafia und Camorra," theils
Franchetti's "systematischer Darlegung der Geschichte Siciliens."
Die destructiven Elemente im Staate,

ihm gegenüberstellt und mächtiger werden kann als er selbst. Nur der sittlichen
Macht ist keine andere Macht gewachsen.

In Italien war seit dem 13. Jahrhundert der Staat kaum etwas anderes
als Macht und Willkür. Fürsten, Städte und Hierarchen bildeten im Grunde
Coterien der Familien- nicht der Staatsinteressen. Von Generation zu Gene¬
ration erstarb in der Brust des armen Mannes immer mehr der Begriff des
Rechts, und an seine Stelle drängte sich der der Gewalt. Vor der Gewalt,
mochte sie Fürst oder Brigant sein, beugte sich alles. Von solcher Gewalt
wurde schon der Dichter der göttlichen Komödie aus seinem Erbe und aus
seiner Vaterstadt vertrieben. Während nun das erlittene Unrecht bei Dante in
den strafenden und zürnenden Weisen seines Iritsrno zum Ausdruck kam, ent¬
fesselte es in der Brust des gemeinen Mannes die Geister gesetzloser und ver¬
brecherischer Leidenschaften. Die gesetzlos organisirte Macht des Staates er¬
zeugte eine andere gesetzlos organisirte Macht wider den Staat, die sich seit
Jahrhunderten in den Räubersystemen der Mafia und Camorm ausbildete,
welche noch heute Spuren in Sicilien und Neapel zurückgelassen haben. Wir
gewahren in den heutigen Zuständen daselbst noch deutlich den Fluch jahrhun-
derte langen Unrechts.*)

Durch jahrhunderte lange Willkür bedrückt, kennt der Sicilianer nur
den Begriff der Gewalt und des persönlichen Einflusses. Die Praxis der
Bestechung und Einschüchterung, d. h. die systematische Ertödtung des Rechts
hat sich hier so ausgebildet, daß der gewöhnliche Mann es ganz in der Ord¬
nung findet, wenn der Reiche und Mächtige durchaus straflos bleibt. Vom
gemeinen Sicilianer kann man noch heute sagen, daß die Begriffe gut und
böse ihm fast fremd geworden sind, und daß er nur vor dem persönlichen Ueber¬
gewicht Respect empfindet. Als Mittel dazu kennt er nur die Selbsthilfe, deren
Ausdruck jene merkwürdige Organisation der Schurkerei ist, welche man in
Palermo Mafia, in Sicilien Malandrinaggio, in Neapel Camorra nennt. Der
Viehraub ist der gewöhnlichste Handstreich der Malandrini. Meilenweit sind
die Flächen menschenleer. Ab und zu kommt ein Städtchen oder ein Feudo,
wie es noch heute heißt, ein großes Gehöft, zum Vorschein. Der Grundbesitzer^
umgeben von einem mittelalterlichen Apparat bewaffneter Diener (Wivxisri)
scheint vollständig gesichert zu sein. Aber eine Anzahl seiner eignen Unter¬
gebenen, seiner Eseltreiber, Holzhacker und kleinen Bauerchen sind Malandrini,
d. h. sie gehören zum geheimen Bunde der Räuber. Anderes Gesindel streift
in den Bergen oder Wäldern umher. Eines Abends haben ihre Freunde die
Wache; schnell sind die Waldbewohner bei der Hand und treiben sechs Stück



*) Im nachstehenden folgen wir theils E. Butte's „Mafia und Camorra," theils
Franchetti's „systematischer Darlegung der Geschichte Siciliens."
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157697/118>, abgerufen am 27.12.2024.