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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Viertes Quartal.

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den Rechten, mit denen sie aus dem Berliner Vertrage hervorging, erhalten
bleibe und wieder zu Kräften komme, und Deutschland ist der Verbündete des
benachbarten Doppelstaates an der Donau. Die Erhaltung und Gesundung
der Türkei lag zum guten Theile in den Händen der türkischen Staatsmänner,
man kann aber nicht sagen, daß letztere die ihnen in dieser Beziehung obliegen¬
den Pflichten begriffen und erfüllt haben.

Um billig zu sein, wird man zugeben müssen, daß sie gleich anfangs er¬
heblichen Schwierigkeiten gegenüber standen, aber sie mußten die Möglichkeit
ins Auge fassen, daß dieselben sich vermehrten und intensiver wurden. Der
einzig richtige Weg für die Pforte war nach Schluß des Berliner Congresses,
so rasch als möglich und, wenn nöthig, mit beträchtlichen Opfern die Fragen
zu lösen, welche jener theilweise offen gelassen hatte. Mit anderen Worten, sie
mußte sich damit beeilen, so lange im Auswärtigen Amte zu London ein Geist
waltete, der ihr entschieden wohlwollte. Sie würde dann weniger Opfer zu
bringen gehabt haben und in der Lage gewesen sein, die nothwendigsten Re¬
formen in ihrer inneren Reorganisation ohne Verzug in Augriff zu nehmen.
Indem sie dies verschmähte und statt mit den harten Thatsachen mit luftigen
Phantasien rechnete, wurde sie von dem Ereignisse überrascht, welches in Eng¬
land Gladstone und seine radicalen Verbündeten ans Ruder brachte, die das
ottomanische Reich mit Gleichgiltigkeit, wo nicht mit den Blicken offener Feind¬
seligkeit betrachteten. In der ersten Zeit und noch während der Berliner Con-
ferenz trat dies noch wenig zu Tage, und so war es noch Zeit für die den
Türken geneigten Mächte, die Consequenzen der zögernden und immer auf Aus¬
flüchte bedachten Politik der Rathgeber des Sultans zu mildern, vorausgesetzt,
daß man in Konstantinopel aufrichtige Fügsamkeit zeigte. Aber die dortigen
maßgebenden Politiker bekundeten sowohl in der montenegrinischen wie in der
griechischen Frage das Gegentheil hiervon, indem sie sich offenbar der Hoffnung
Hingaben, die Pforte werde im Stande sein, das europäische Einvernehmen zu
stören und die ihr geneigten Mächte von den anderen zu trennen. Aber wie es
im Privatleben bisweilen vorkommt, daß man sich genöthigt sieht, Freunden
oder Geschäftsgeuossen gegenüber, die ihr eigenes Interesse nicht begreifen, wider
deren Wunsch und Willen Wege einzuschlagen, die zu ihrem Vortheil fuhren,
oder wenigstens anderen zu gestatten, daß sie dieselben ans solche Wege drän¬
gen, so kann es auch kommen, daß die Gönner der Psorte ein derartiges Vor¬
gehen bis zu einem gewissen Maße adoptieren. Bis zu einem gewissen Maße,
sagen wir. Denn wir wollen damit durchaus nicht vermuthet haben, daß
Deutschland und Oesterreich-Ungarn, weil sie bei der Geltendmachung der Rechte
Europas gegenüber der unklugen Politik der Pforte mitwirken, irgend welche
Neigung haben könnten, Herrn Gladstone, wenn er inzwischen bei weitergehenden


den Rechten, mit denen sie aus dem Berliner Vertrage hervorging, erhalten
bleibe und wieder zu Kräften komme, und Deutschland ist der Verbündete des
benachbarten Doppelstaates an der Donau. Die Erhaltung und Gesundung
der Türkei lag zum guten Theile in den Händen der türkischen Staatsmänner,
man kann aber nicht sagen, daß letztere die ihnen in dieser Beziehung obliegen¬
den Pflichten begriffen und erfüllt haben.

Um billig zu sein, wird man zugeben müssen, daß sie gleich anfangs er¬
heblichen Schwierigkeiten gegenüber standen, aber sie mußten die Möglichkeit
ins Auge fassen, daß dieselben sich vermehrten und intensiver wurden. Der
einzig richtige Weg für die Pforte war nach Schluß des Berliner Congresses,
so rasch als möglich und, wenn nöthig, mit beträchtlichen Opfern die Fragen
zu lösen, welche jener theilweise offen gelassen hatte. Mit anderen Worten, sie
mußte sich damit beeilen, so lange im Auswärtigen Amte zu London ein Geist
waltete, der ihr entschieden wohlwollte. Sie würde dann weniger Opfer zu
bringen gehabt haben und in der Lage gewesen sein, die nothwendigsten Re¬
formen in ihrer inneren Reorganisation ohne Verzug in Augriff zu nehmen.
Indem sie dies verschmähte und statt mit den harten Thatsachen mit luftigen
Phantasien rechnete, wurde sie von dem Ereignisse überrascht, welches in Eng¬
land Gladstone und seine radicalen Verbündeten ans Ruder brachte, die das
ottomanische Reich mit Gleichgiltigkeit, wo nicht mit den Blicken offener Feind¬
seligkeit betrachteten. In der ersten Zeit und noch während der Berliner Con-
ferenz trat dies noch wenig zu Tage, und so war es noch Zeit für die den
Türken geneigten Mächte, die Consequenzen der zögernden und immer auf Aus¬
flüchte bedachten Politik der Rathgeber des Sultans zu mildern, vorausgesetzt,
daß man in Konstantinopel aufrichtige Fügsamkeit zeigte. Aber die dortigen
maßgebenden Politiker bekundeten sowohl in der montenegrinischen wie in der
griechischen Frage das Gegentheil hiervon, indem sie sich offenbar der Hoffnung
Hingaben, die Pforte werde im Stande sein, das europäische Einvernehmen zu
stören und die ihr geneigten Mächte von den anderen zu trennen. Aber wie es
im Privatleben bisweilen vorkommt, daß man sich genöthigt sieht, Freunden
oder Geschäftsgeuossen gegenüber, die ihr eigenes Interesse nicht begreifen, wider
deren Wunsch und Willen Wege einzuschlagen, die zu ihrem Vortheil fuhren,
oder wenigstens anderen zu gestatten, daß sie dieselben ans solche Wege drän¬
gen, so kann es auch kommen, daß die Gönner der Psorte ein derartiges Vor¬
gehen bis zu einem gewissen Maße adoptieren. Bis zu einem gewissen Maße,
sagen wir. Denn wir wollen damit durchaus nicht vermuthet haben, daß
Deutschland und Oesterreich-Ungarn, weil sie bei der Geltendmachung der Rechte
Europas gegenüber der unklugen Politik der Pforte mitwirken, irgend welche
Neigung haben könnten, Herrn Gladstone, wenn er inzwischen bei weitergehenden


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157695/96>, abgerufen am 08.01.2025.