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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Viertes Quartal.

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bildend? Wir müssen uns hüten es stets im entschieden Reinen und Sitt¬
lichen suchen zu wollen. Alles Große bildet, sobald wir es gewahr werden"
(Gespräche Eckermcmus mit Goethe, 16. December 1828) würde die ganze Frage
entscheiden können. Und wenn der Meister an andere": Orten mit seinem gött¬
lichsten Grimme sich wider jene Poesie erklärt, welche das Männliche, Leiden¬
schaftliche geradezu ausschließt und keine Schilderung und Charakteristik wagt,
vor der die Mädchen in der Pension erschrecken könnten, so hat er auch da nur
die Gefahr vorausgesehen, die der starken Poesie drohte. Indeß, so gut sind
die Dichter von heute nicht gestellt, daß sie sich einfach auf ihr uraltes Recht
berufen dürfen, alle Höhen und Tiefen des Lebens darzustellen. Jene Entwick¬
lung unserer neuesten Literatur, welche mit gewissen frivolen Wandlungen zu¬
sammenfiel, hat eine charakteristische Ueberfülle von wüster und frecher Bel¬
letristik erzeugt, eine Art von Bühnenstücken, die schlechthin unqualificierbar
sind, eine Sorte von Novellen und Romanen, welche das Spiegelbild einer
Generation sind, deren einziger Lebenszweck der glatte Genuß scheint und in
derem ganzen Dasein kein anderer Ernst Raum hat als feige Todesfurcht und
noch feigere Furcht vor materieller Entbehrung. Für die schlechtesten Neigungen
eines gewissen Publikums haben zahlreiche leichte oder, wie sie emphatisch ge¬
tauft worden, "pikante" Talente die Kuppler gemacht und -- und noch einmal
ein Goethisches Wort -- "um sich von der kurzsichtigen Masse als witzige Köpfe
bewundern zu lassen, haben sie keine Scham und Scheu und ist ihnen nichts
heilig." Die Gefahr, welche diese Entwicklung und Richtung hervorruft, ist eine
doppelte oder dreifache. Sie demoralisiert eiuen Theil des Publikums, auf den
ursprünglich dergleichen "Schöpfungen" nicht berechnet waren, sie flößt ernsten
Naturen und Geistern einen Widerwillen gegen die neuen poetischen Producte über¬
haupt ein, und sie ruft endlich bei Schaffenden und Genießenden einen falschen
Puritanismus hervor. Leise, unmerklich läßt sich mancher, der gerechten Ekel und
tiefe Abneigung gegen die schamlose und innerlich verkommene Pikanterie der
modischen Tagesliteratur empfindet, aus der vollen und allumfassende" Dar-
Stellung des Lebens in das begrenzte Gebiet und den unwahren Ton des Gou-
vernantenromans hineintreiben. Unwillkürlich steigert sich bei den Ernstgesinnten
die Nückhaltung und die Scheu vor allem Gewagten, so daß die Frische, Wärme
und Unmittelbarkeit der poetischen Darstellung darunter leiden können und
müssen. Vornehmere Naturen bangen leicht davor, mit den gemeinen verwech¬
selt zu werden. In der That aber ist es nur billig, wenn Publikum und Be¬
urtheiler in allen solchen Füllen -- und also auch in Kellers Fall -- die Ge-
sammterscheinung und Gesammtrichtung eines Dichters ins Auge fassen. Dann
ist der Dichter des "Grünen Heinrich" und der "Leute von Seldwyla" wohl hin¬
länglich vor dem Verdachte geschützt, als ob er um die Gunst des frivolen, lüsternen


bildend? Wir müssen uns hüten es stets im entschieden Reinen und Sitt¬
lichen suchen zu wollen. Alles Große bildet, sobald wir es gewahr werden"
(Gespräche Eckermcmus mit Goethe, 16. December 1828) würde die ganze Frage
entscheiden können. Und wenn der Meister an andere»: Orten mit seinem gött¬
lichsten Grimme sich wider jene Poesie erklärt, welche das Männliche, Leiden¬
schaftliche geradezu ausschließt und keine Schilderung und Charakteristik wagt,
vor der die Mädchen in der Pension erschrecken könnten, so hat er auch da nur
die Gefahr vorausgesehen, die der starken Poesie drohte. Indeß, so gut sind
die Dichter von heute nicht gestellt, daß sie sich einfach auf ihr uraltes Recht
berufen dürfen, alle Höhen und Tiefen des Lebens darzustellen. Jene Entwick¬
lung unserer neuesten Literatur, welche mit gewissen frivolen Wandlungen zu¬
sammenfiel, hat eine charakteristische Ueberfülle von wüster und frecher Bel¬
letristik erzeugt, eine Art von Bühnenstücken, die schlechthin unqualificierbar
sind, eine Sorte von Novellen und Romanen, welche das Spiegelbild einer
Generation sind, deren einziger Lebenszweck der glatte Genuß scheint und in
derem ganzen Dasein kein anderer Ernst Raum hat als feige Todesfurcht und
noch feigere Furcht vor materieller Entbehrung. Für die schlechtesten Neigungen
eines gewissen Publikums haben zahlreiche leichte oder, wie sie emphatisch ge¬
tauft worden, „pikante" Talente die Kuppler gemacht und — und noch einmal
ein Goethisches Wort — „um sich von der kurzsichtigen Masse als witzige Köpfe
bewundern zu lassen, haben sie keine Scham und Scheu und ist ihnen nichts
heilig." Die Gefahr, welche diese Entwicklung und Richtung hervorruft, ist eine
doppelte oder dreifache. Sie demoralisiert eiuen Theil des Publikums, auf den
ursprünglich dergleichen „Schöpfungen" nicht berechnet waren, sie flößt ernsten
Naturen und Geistern einen Widerwillen gegen die neuen poetischen Producte über¬
haupt ein, und sie ruft endlich bei Schaffenden und Genießenden einen falschen
Puritanismus hervor. Leise, unmerklich läßt sich mancher, der gerechten Ekel und
tiefe Abneigung gegen die schamlose und innerlich verkommene Pikanterie der
modischen Tagesliteratur empfindet, aus der vollen und allumfassende» Dar-
Stellung des Lebens in das begrenzte Gebiet und den unwahren Ton des Gou-
vernantenromans hineintreiben. Unwillkürlich steigert sich bei den Ernstgesinnten
die Nückhaltung und die Scheu vor allem Gewagten, so daß die Frische, Wärme
und Unmittelbarkeit der poetischen Darstellung darunter leiden können und
müssen. Vornehmere Naturen bangen leicht davor, mit den gemeinen verwech¬
selt zu werden. In der That aber ist es nur billig, wenn Publikum und Be¬
urtheiler in allen solchen Füllen — und also auch in Kellers Fall — die Ge-
sammterscheinung und Gesammtrichtung eines Dichters ins Auge fassen. Dann
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länglich vor dem Verdachte geschützt, als ob er um die Gunst des frivolen, lüsternen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157695/72>, abgerufen am 10.01.2025.