Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Viertes Quartal.und die anmuthigste Heiterkeit sehr bemerkenswerth von der elegischen Grund¬ Lebten wir in gesünderen Zuständen, vor allem in Zuständen, in denen und die anmuthigste Heiterkeit sehr bemerkenswerth von der elegischen Grund¬ Lebten wir in gesünderen Zuständen, vor allem in Zuständen, in denen <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0071" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/147718"/> <p xml:id="ID_206" prev="#ID_205"> und die anmuthigste Heiterkeit sehr bemerkenswerth von der elegischen Grund¬<lb/> stimmung fast aller wahrhaften Poesie unserer Zeit unterscheidet, spricht sich der<lb/> kurze Vorbericht des Dichters aus. „Beim Lesen einer Anzahl Legenden wollte<lb/> es dem Urheber vorliegenden Büchleins scheinen, als ob in der überlieferten<lb/> Masse dieser Sagen nicht nur die kirchliche Fabulierkunst sich geltend mache, son¬<lb/> dern wohl auch die Spuren einer ehemaligen mehr profanen Erzählungslust<lb/> oder Novellistik zu bemerken seien, wenn man aufmerksam Hinblicke. Wie nun<lb/> der Maler durch ein fragmentarisches Wolkenbild, eine Gebirgslinie, durch das<lb/> radierte Blättchen eines verschollenen Meisters zur Ausfüllung eines Rahmens<lb/> gereizt wird, so verspürte der Verfasser die Lust zu einer Reproduction jener<lb/> abgebrochen schwebenden Gebilde, wobei ihnen freilich zuweilen das Antlitz nach<lb/> einer anderen Himmelsgegend hingewendet wurde, als nach welcher sie in der<lb/> überkommenen Gestalt schauen." Mit anderen Worten: Der Dichter hat mit<lb/> schalkhafter Lust eine Anzahl von Legenden ins Weltliche gewandt oder wenn<lb/> man will ihre ursprünglichen Motive wieder aufgefrischt. Nicht die wohlfeile<lb/> Parodie der Legende, wie sie von einem gewissen Theil der aufgeklärten Presse<lb/> geübt wird, nicht eine Verspottung der religiösen Empfindung und Stimmung,<lb/> sondern die wirklich poetische Auffassung und stärkere Hervorkehrung der weltlichen<lb/> Situationen und Empfindungen, die in manchen Legenden enthalten sind, hat<lb/> zu diesen graziösen Erzählungen Anlaß gegeben. Den Preis möchten wir den<lb/> vier ersten dieser Legenden: „Eugenia," „Die Jungfrau und der Teufel," „Die<lb/> Jungfrau als Ritter" und „Die Jungfrau und die Nonne" zusprechen. „Der<lb/> schlimmheilige Vitalis" steht auf der Grenze dessen, was dem wahrhaften Dichter<lb/> darzustellen verstattet ist, und wenn an den erstgenannten Legenden eigentlich<lb/> nur jene befangene Unduldsamkeit Anstoß nehmen wird, die auch die Stein¬<lb/> metzenscherze an den Bildwerken unserer gothischen Dome und das schlagende<lb/> Witzwort in Luthers Tischreden nicht ertragen mag, so kann der „Heilige Vitalis"<lb/> auch minder Befangenen, die den richtigen Gesichtspunkt des Poeten uicht gleich<lb/> finden, Aergerniß geben. Und wie es zu geschehen Pflegt, wirkt dies auf die<lb/> Auffassung der anderen prächtigen Geschichten zurück, und Kellers „Sieben<lb/> Legenden" gehören wohl zu denjenigen modernen Dichtungen, die ohne weiteres<lb/> der Frivolität oder wenigstens einer übergroßen Keckheit angeklagt werden.</p><lb/> <p xml:id="ID_207" next="#ID_208"> Lebten wir in gesünderen Zuständen, vor allem in Zuständen, in denen<lb/> die künstlerischen Darbietungen lediglich aus sich selbst und nach ihren ästheti¬<lb/> schen Wirkungen beurtheilt würden, so lohnte es sich nicht, überhaupt im Ernst<lb/> über die Forderungen eines gewissen Puritanismus in der Kunst, die heute<lb/> gerade in tüchtigen Kreisen auftauchen, zu sprechen. Goethes Wort an Eckermann,<lb/> mit dem er dessen Zweifel an dem Werthe Byrons für reine Menschenbildung<lb/> niederschlug: „Byrons Kühnheit, Keckheit und Grandiosität, ist das alles nicht</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0071]
und die anmuthigste Heiterkeit sehr bemerkenswerth von der elegischen Grund¬
stimmung fast aller wahrhaften Poesie unserer Zeit unterscheidet, spricht sich der
kurze Vorbericht des Dichters aus. „Beim Lesen einer Anzahl Legenden wollte
es dem Urheber vorliegenden Büchleins scheinen, als ob in der überlieferten
Masse dieser Sagen nicht nur die kirchliche Fabulierkunst sich geltend mache, son¬
dern wohl auch die Spuren einer ehemaligen mehr profanen Erzählungslust
oder Novellistik zu bemerken seien, wenn man aufmerksam Hinblicke. Wie nun
der Maler durch ein fragmentarisches Wolkenbild, eine Gebirgslinie, durch das
radierte Blättchen eines verschollenen Meisters zur Ausfüllung eines Rahmens
gereizt wird, so verspürte der Verfasser die Lust zu einer Reproduction jener
abgebrochen schwebenden Gebilde, wobei ihnen freilich zuweilen das Antlitz nach
einer anderen Himmelsgegend hingewendet wurde, als nach welcher sie in der
überkommenen Gestalt schauen." Mit anderen Worten: Der Dichter hat mit
schalkhafter Lust eine Anzahl von Legenden ins Weltliche gewandt oder wenn
man will ihre ursprünglichen Motive wieder aufgefrischt. Nicht die wohlfeile
Parodie der Legende, wie sie von einem gewissen Theil der aufgeklärten Presse
geübt wird, nicht eine Verspottung der religiösen Empfindung und Stimmung,
sondern die wirklich poetische Auffassung und stärkere Hervorkehrung der weltlichen
Situationen und Empfindungen, die in manchen Legenden enthalten sind, hat
zu diesen graziösen Erzählungen Anlaß gegeben. Den Preis möchten wir den
vier ersten dieser Legenden: „Eugenia," „Die Jungfrau und der Teufel," „Die
Jungfrau als Ritter" und „Die Jungfrau und die Nonne" zusprechen. „Der
schlimmheilige Vitalis" steht auf der Grenze dessen, was dem wahrhaften Dichter
darzustellen verstattet ist, und wenn an den erstgenannten Legenden eigentlich
nur jene befangene Unduldsamkeit Anstoß nehmen wird, die auch die Stein¬
metzenscherze an den Bildwerken unserer gothischen Dome und das schlagende
Witzwort in Luthers Tischreden nicht ertragen mag, so kann der „Heilige Vitalis"
auch minder Befangenen, die den richtigen Gesichtspunkt des Poeten uicht gleich
finden, Aergerniß geben. Und wie es zu geschehen Pflegt, wirkt dies auf die
Auffassung der anderen prächtigen Geschichten zurück, und Kellers „Sieben
Legenden" gehören wohl zu denjenigen modernen Dichtungen, die ohne weiteres
der Frivolität oder wenigstens einer übergroßen Keckheit angeklagt werden.
Lebten wir in gesünderen Zuständen, vor allem in Zuständen, in denen
die künstlerischen Darbietungen lediglich aus sich selbst und nach ihren ästheti¬
schen Wirkungen beurtheilt würden, so lohnte es sich nicht, überhaupt im Ernst
über die Forderungen eines gewissen Puritanismus in der Kunst, die heute
gerade in tüchtigen Kreisen auftauchen, zu sprechen. Goethes Wort an Eckermann,
mit dem er dessen Zweifel an dem Werthe Byrons für reine Menschenbildung
niederschlug: „Byrons Kühnheit, Keckheit und Grandiosität, ist das alles nicht
Informationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.
Weitere Informationen:Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur. Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (ꝛ): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja; Nachkorrektur erfolgte automatisch.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2025 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |