Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Viertes Quartal.

Bild:
<< vorherige Seite

aber gehörte zu den hervorragendsten Charaktereigenschaften der reichsstädtischen
Bürger des vorigen Jahrhunderts eine nahezu lasterhafte Bedächtigkeit und eine
daraus entspringende Entschlußlosigkeit. Vor lauter Erwägungen und Bedenk¬
lichkeiten kam es in zahllosen Fällen zu keinem Handeln, blieben die besten Vor¬
sätze unausgeführt. Das endlose Hin- und Herüberlegen lähmte alle Thatkraft.
Man wollte gerecht und billig sein, aber nicht ohne zuvor mit der nöthigen Ge¬
müthsruhe und Gemächlichkeit nach allen Richtungen hin wieder und wieder zu
prüfen und alle möglichen Folgen eines etwaigen Handelns in Rechnung zu
ziehen. Darüber verstrich die Zeit, bis es zu spät war etwas zu thun. Ein
von außen hinzutretender Zwang wirkte da oft recht wohlthätig, indem er die
Entschließungen beschleunigte. Aber freilich gerade der Umstand, daß die Reichs¬
städter sich so häufig einem äußeren Zwange ausgesetzt sahen, war andererseits
wieder die hauptsächlichste Ursache ihrer ewigen Bedenklichkeitskrämerei.

Von einer Zwangslage konnte im vorliegenden Falle keine Rede sein. Von
der befreundeten Reichsabtei brauchte man nicht wie von größeren Nachbarn
stündlich die Ankunft grober und amnaßlicher Drohbriefe, die noch obendrein
mit höflichen Entschuldigungen beantwortet werden mußten, zu befürchten. Man
hatte uicht nöthig, sich das Hirn zu zermartern, um Ausflüchte für längeres Tem-
porisieren zu ersinnen. Von Kaisheim kamen nur von Zeit zu Zeit neue Be-
weismaterialien, womit regelmäßig bescheidene Erinnerungen und Anfragen, wie
weit man denn sei, verbunden waren. Darauf antwortete man von Augsburg,
die Sache sei ungemein schwierig und verwickelt, werde aber aufs gründlichste
untersucht, und man werde gewiß nicht verfehlen, seinerzeit das Resultat zu
melden.

Mit der angeblichen Schwierigkeit hatte es eine eigene Bewandniß. Die
Untersuchung selbst gestaltete sich leicht und einfach. Obwohl die beiden Ange¬
schuldigten und namentlich Bernauer unverschämt logen, so verwickelten sie sich
doch rasch durch Vorwürfe und Beschuldigungen, die sie sich gegenseitig ins Ge¬
sicht schleuderten, in Widersprüche. Dazu kamen die von Kaisheim überschickten
Aussagen des wieder arretierten Flüchtlings und seiner Freunde in Altenmünster
und Eppisburg. So wurde mit geriuger Mühe sehr bald der wahre Sachver¬
halt aus Licht gebracht. Die Schwierigkeit lag an einer ganz anderen Stelle.
Die Kaisheimer wollten ihre 100 Gulden wieder haben, und in Augsburg sah
man sehr wohl, daß dies ein in jeder Beziehung billiges Begehren sei; aber der
Unteroffizier Bernauer hatte kein Geld. Hierzu kam, daß Bernauer als brauch¬
barer Soldat geschätzt war, dem man nicht mehr als nothwendig wehe thun
wollte. Die von ihm begangene Fälschung des Zeugnisses war zwar eine recht
üble Geschichte, allein es war doch eigentlich kein Vergehen gegen die eigene
Obrigkeit, und wenn die Kaisheimer selbst nicht auf Bestrafung drangen, so hatte


Grenzboten IV. 1380. 9

aber gehörte zu den hervorragendsten Charaktereigenschaften der reichsstädtischen
Bürger des vorigen Jahrhunderts eine nahezu lasterhafte Bedächtigkeit und eine
daraus entspringende Entschlußlosigkeit. Vor lauter Erwägungen und Bedenk¬
lichkeiten kam es in zahllosen Fällen zu keinem Handeln, blieben die besten Vor¬
sätze unausgeführt. Das endlose Hin- und Herüberlegen lähmte alle Thatkraft.
Man wollte gerecht und billig sein, aber nicht ohne zuvor mit der nöthigen Ge¬
müthsruhe und Gemächlichkeit nach allen Richtungen hin wieder und wieder zu
prüfen und alle möglichen Folgen eines etwaigen Handelns in Rechnung zu
ziehen. Darüber verstrich die Zeit, bis es zu spät war etwas zu thun. Ein
von außen hinzutretender Zwang wirkte da oft recht wohlthätig, indem er die
Entschließungen beschleunigte. Aber freilich gerade der Umstand, daß die Reichs¬
städter sich so häufig einem äußeren Zwange ausgesetzt sahen, war andererseits
wieder die hauptsächlichste Ursache ihrer ewigen Bedenklichkeitskrämerei.

Von einer Zwangslage konnte im vorliegenden Falle keine Rede sein. Von
der befreundeten Reichsabtei brauchte man nicht wie von größeren Nachbarn
stündlich die Ankunft grober und amnaßlicher Drohbriefe, die noch obendrein
mit höflichen Entschuldigungen beantwortet werden mußten, zu befürchten. Man
hatte uicht nöthig, sich das Hirn zu zermartern, um Ausflüchte für längeres Tem-
porisieren zu ersinnen. Von Kaisheim kamen nur von Zeit zu Zeit neue Be-
weismaterialien, womit regelmäßig bescheidene Erinnerungen und Anfragen, wie
weit man denn sei, verbunden waren. Darauf antwortete man von Augsburg,
die Sache sei ungemein schwierig und verwickelt, werde aber aufs gründlichste
untersucht, und man werde gewiß nicht verfehlen, seinerzeit das Resultat zu
melden.

Mit der angeblichen Schwierigkeit hatte es eine eigene Bewandniß. Die
Untersuchung selbst gestaltete sich leicht und einfach. Obwohl die beiden Ange¬
schuldigten und namentlich Bernauer unverschämt logen, so verwickelten sie sich
doch rasch durch Vorwürfe und Beschuldigungen, die sie sich gegenseitig ins Ge¬
sicht schleuderten, in Widersprüche. Dazu kamen die von Kaisheim überschickten
Aussagen des wieder arretierten Flüchtlings und seiner Freunde in Altenmünster
und Eppisburg. So wurde mit geriuger Mühe sehr bald der wahre Sachver¬
halt aus Licht gebracht. Die Schwierigkeit lag an einer ganz anderen Stelle.
Die Kaisheimer wollten ihre 100 Gulden wieder haben, und in Augsburg sah
man sehr wohl, daß dies ein in jeder Beziehung billiges Begehren sei; aber der
Unteroffizier Bernauer hatte kein Geld. Hierzu kam, daß Bernauer als brauch¬
barer Soldat geschätzt war, dem man nicht mehr als nothwendig wehe thun
wollte. Die von ihm begangene Fälschung des Zeugnisses war zwar eine recht
üble Geschichte, allein es war doch eigentlich kein Vergehen gegen die eigene
Obrigkeit, und wenn die Kaisheimer selbst nicht auf Bestrafung drangen, so hatte


Grenzboten IV. 1380. 9
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0065" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/147712"/>
          <p xml:id="ID_187" prev="#ID_186"> aber gehörte zu den hervorragendsten Charaktereigenschaften der reichsstädtischen<lb/>
Bürger des vorigen Jahrhunderts eine nahezu lasterhafte Bedächtigkeit und eine<lb/>
daraus entspringende Entschlußlosigkeit. Vor lauter Erwägungen und Bedenk¬<lb/>
lichkeiten kam es in zahllosen Fällen zu keinem Handeln, blieben die besten Vor¬<lb/>
sätze unausgeführt. Das endlose Hin- und Herüberlegen lähmte alle Thatkraft.<lb/>
Man wollte gerecht und billig sein, aber nicht ohne zuvor mit der nöthigen Ge¬<lb/>
müthsruhe und Gemächlichkeit nach allen Richtungen hin wieder und wieder zu<lb/>
prüfen und alle möglichen Folgen eines etwaigen Handelns in Rechnung zu<lb/>
ziehen. Darüber verstrich die Zeit, bis es zu spät war etwas zu thun. Ein<lb/>
von außen hinzutretender Zwang wirkte da oft recht wohlthätig, indem er die<lb/>
Entschließungen beschleunigte. Aber freilich gerade der Umstand, daß die Reichs¬<lb/>
städter sich so häufig einem äußeren Zwange ausgesetzt sahen, war andererseits<lb/>
wieder die hauptsächlichste Ursache ihrer ewigen Bedenklichkeitskrämerei.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_188"> Von einer Zwangslage konnte im vorliegenden Falle keine Rede sein. Von<lb/>
der befreundeten Reichsabtei brauchte man nicht wie von größeren Nachbarn<lb/>
stündlich die Ankunft grober und amnaßlicher Drohbriefe, die noch obendrein<lb/>
mit höflichen Entschuldigungen beantwortet werden mußten, zu befürchten. Man<lb/>
hatte uicht nöthig, sich das Hirn zu zermartern, um Ausflüchte für längeres Tem-<lb/>
porisieren zu ersinnen. Von Kaisheim kamen nur von Zeit zu Zeit neue Be-<lb/>
weismaterialien, womit regelmäßig bescheidene Erinnerungen und Anfragen, wie<lb/>
weit man denn sei, verbunden waren. Darauf antwortete man von Augsburg,<lb/>
die Sache sei ungemein schwierig und verwickelt, werde aber aufs gründlichste<lb/>
untersucht, und man werde gewiß nicht verfehlen, seinerzeit das Resultat zu<lb/>
melden.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_189" next="#ID_190"> Mit der angeblichen Schwierigkeit hatte es eine eigene Bewandniß. Die<lb/>
Untersuchung selbst gestaltete sich leicht und einfach. Obwohl die beiden Ange¬<lb/>
schuldigten und namentlich Bernauer unverschämt logen, so verwickelten sie sich<lb/>
doch rasch durch Vorwürfe und Beschuldigungen, die sie sich gegenseitig ins Ge¬<lb/>
sicht schleuderten, in Widersprüche. Dazu kamen die von Kaisheim überschickten<lb/>
Aussagen des wieder arretierten Flüchtlings und seiner Freunde in Altenmünster<lb/>
und Eppisburg. So wurde mit geriuger Mühe sehr bald der wahre Sachver¬<lb/>
halt aus Licht gebracht. Die Schwierigkeit lag an einer ganz anderen Stelle.<lb/>
Die Kaisheimer wollten ihre 100 Gulden wieder haben, und in Augsburg sah<lb/>
man sehr wohl, daß dies ein in jeder Beziehung billiges Begehren sei; aber der<lb/>
Unteroffizier Bernauer hatte kein Geld. Hierzu kam, daß Bernauer als brauch¬<lb/>
barer Soldat geschätzt war, dem man nicht mehr als nothwendig wehe thun<lb/>
wollte. Die von ihm begangene Fälschung des Zeugnisses war zwar eine recht<lb/>
üble Geschichte, allein es war doch eigentlich kein Vergehen gegen die eigene<lb/>
Obrigkeit, und wenn die Kaisheimer selbst nicht auf Bestrafung drangen, so hatte</p><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten IV. 1380. 9</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0065] aber gehörte zu den hervorragendsten Charaktereigenschaften der reichsstädtischen Bürger des vorigen Jahrhunderts eine nahezu lasterhafte Bedächtigkeit und eine daraus entspringende Entschlußlosigkeit. Vor lauter Erwägungen und Bedenk¬ lichkeiten kam es in zahllosen Fällen zu keinem Handeln, blieben die besten Vor¬ sätze unausgeführt. Das endlose Hin- und Herüberlegen lähmte alle Thatkraft. Man wollte gerecht und billig sein, aber nicht ohne zuvor mit der nöthigen Ge¬ müthsruhe und Gemächlichkeit nach allen Richtungen hin wieder und wieder zu prüfen und alle möglichen Folgen eines etwaigen Handelns in Rechnung zu ziehen. Darüber verstrich die Zeit, bis es zu spät war etwas zu thun. Ein von außen hinzutretender Zwang wirkte da oft recht wohlthätig, indem er die Entschließungen beschleunigte. Aber freilich gerade der Umstand, daß die Reichs¬ städter sich so häufig einem äußeren Zwange ausgesetzt sahen, war andererseits wieder die hauptsächlichste Ursache ihrer ewigen Bedenklichkeitskrämerei. Von einer Zwangslage konnte im vorliegenden Falle keine Rede sein. Von der befreundeten Reichsabtei brauchte man nicht wie von größeren Nachbarn stündlich die Ankunft grober und amnaßlicher Drohbriefe, die noch obendrein mit höflichen Entschuldigungen beantwortet werden mußten, zu befürchten. Man hatte uicht nöthig, sich das Hirn zu zermartern, um Ausflüchte für längeres Tem- porisieren zu ersinnen. Von Kaisheim kamen nur von Zeit zu Zeit neue Be- weismaterialien, womit regelmäßig bescheidene Erinnerungen und Anfragen, wie weit man denn sei, verbunden waren. Darauf antwortete man von Augsburg, die Sache sei ungemein schwierig und verwickelt, werde aber aufs gründlichste untersucht, und man werde gewiß nicht verfehlen, seinerzeit das Resultat zu melden. Mit der angeblichen Schwierigkeit hatte es eine eigene Bewandniß. Die Untersuchung selbst gestaltete sich leicht und einfach. Obwohl die beiden Ange¬ schuldigten und namentlich Bernauer unverschämt logen, so verwickelten sie sich doch rasch durch Vorwürfe und Beschuldigungen, die sie sich gegenseitig ins Ge¬ sicht schleuderten, in Widersprüche. Dazu kamen die von Kaisheim überschickten Aussagen des wieder arretierten Flüchtlings und seiner Freunde in Altenmünster und Eppisburg. So wurde mit geriuger Mühe sehr bald der wahre Sachver¬ halt aus Licht gebracht. Die Schwierigkeit lag an einer ganz anderen Stelle. Die Kaisheimer wollten ihre 100 Gulden wieder haben, und in Augsburg sah man sehr wohl, daß dies ein in jeder Beziehung billiges Begehren sei; aber der Unteroffizier Bernauer hatte kein Geld. Hierzu kam, daß Bernauer als brauch¬ barer Soldat geschätzt war, dem man nicht mehr als nothwendig wehe thun wollte. Die von ihm begangene Fälschung des Zeugnisses war zwar eine recht üble Geschichte, allein es war doch eigentlich kein Vergehen gegen die eigene Obrigkeit, und wenn die Kaisheimer selbst nicht auf Bestrafung drangen, so hatte Grenzboten IV. 1380. 9

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157695
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157695/65
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157695/65>, abgerufen am 01.01.2025.