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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Viertes Quartal.

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früher Proben gegeben. Es ist also nicht etwa ein neuer Mirza - Schaffy, eine
Maske, hinter der sich das Antlitz des formgewandten, graziös scherzenden deutschen
Lyrikers nur halb verbirgt, sondern ein "sichrer" Omar ChajjS-in, der freilich in der
Verdeutschung sich ganz in Mirza-Schaffys Formen und Lauten hören läßt. In
ein paar Versen:


Ich weiß, wie Sein und Nichtsein sich uns offenbaren.
In Gründung der höchsten Gedanken bin ich erfahren,
Doch all' dieses Wissen wäre nur Scheingenuß,
Wenns nicht verklärt würde durch Weingenuß!

oder:


Dieser Krug ist, wie ich, unglücklich lebendig gewesen,
In schöne Locken und Augen verliebt unverständig gewesen,
Dieser Henkel am Halse des Kruges war einst ein Arm,
Der in Umhalsung der Schönen unbändig gewesen!

haben wir den skeptischen Perserpoeten aus dem 11. Jahrhundert in seinem moder¬
nen deutschen Gewände lebendig und charakteristisch vor uns. Daß einer dieser
Perserdichter dem andern verzweifelt ähnlich sieht, daß die Weisheit aller über die
Empfehlung an den geneigten Leser, zu schweigen und fleißig Wein zu trinken, kaum
hinauswächst, ist nicht zu ändern. Bei alledem finden wir auch in den "Liedern
und Sprüchen des Omar ChajjM" eine Reihe tiefrer Gedanken, eine noch größere
hübscher und sinnreicher Einfälle; die Kürze der Sprüche und die energische Poin¬
tierung in der letzten Zeile prägt die besten derselben leicht dem Gedächtniß ein.
Den Freunden orientalischer Muse und Bodenstedtscher Verskunst mögen die Ueber-
tragungen bestens empfohlen sein.


Frau Holde. Gedicht von Rudolf Baumbach. Leipzig, A. G. Liebeskind,
1880.

Der "fahrende Gesell", der uns früher schon zwei Bändchen köstlicher Lieder
gespendet, hat sich wieder rin einer Gabe eingestellt. Sein neues Büchlein erzählt
uns die simple und doch so wundersame Herzensgeschichte von einem armen Berg¬
mann in Thüringen, Frieder, der Festtags zum Tanze die Zither schlägt und voller
Lieder steckt, und seiner trauten Ilse, dem blonden Schäferkinde. Frau Holde über¬
schüttet die beiden, die fest an die gute Göttin glauben, mit allem Glück der Liebe
und rettet sie vor Junker Konrad, dem lüsternen Bösewicht, der ihr Liebesglück unter¬
graben will. Um dieses einfache Thema aber rankt sich wieder eine Fülle echtester,
herzerfreuendster Poesie. Alle die Vorziige, die wir vorm Jahre an den "Liedern
eines fahrenden Gesellen" gerühmt, die innige Vertrautheit des Dichters mit dem
Leben der Natur, die zwingende und überzeugende poetische Kraft, mit der er Mär¬
chenhaftes und Realistisches verschmilzt, das bewundernswürdige Geschick, mit dem
er die abgegriffene Dichtersprache von heute durch die altdeutsche Volkspoesie auf¬
frischt, ohne ihr doch im geringsten einen unbehaglichen alterthümelnden Beigeschmack
zu geben -- sie treten auch hier wieder glänzend hervor. "Frau Holde" zeigt aber
zugleich, daß Baumbach nicht bloß lustige Spielmannsweisen zu singen, sondern
auch für das tiefste Weh der Menschenbrust die ergreifendsten Töne zu finden weiß.
Es bleibt dabei: er ist ein gottbegnadetes dichterisches Talent. Sein Stoffgebiet
ist vielleicht nicht umfangreich, und wenn er sich nicht wiederholen will, so wird er
sich möglicherweise rasch einmal ausgesungen haben; aber innerhalb dieses Gebietes
steht er jetzt wohl ziemlich einzig da. Zweierlei wünschen wir seiner Muse von
Herzen, einen immer größern Kreis von Freunden, und daß sie es stets möge ver¬
schmähen können, nach Brot zu gehen und auf Bestellung zu singen, wobei so
manches ehemals erfreuliche Talent sich heutzutage in kläglicher Decadence präsentiert.


früher Proben gegeben. Es ist also nicht etwa ein neuer Mirza - Schaffy, eine
Maske, hinter der sich das Antlitz des formgewandten, graziös scherzenden deutschen
Lyrikers nur halb verbirgt, sondern ein „sichrer" Omar ChajjS-in, der freilich in der
Verdeutschung sich ganz in Mirza-Schaffys Formen und Lauten hören läßt. In
ein paar Versen:


Ich weiß, wie Sein und Nichtsein sich uns offenbaren.
In Gründung der höchsten Gedanken bin ich erfahren,
Doch all' dieses Wissen wäre nur Scheingenuß,
Wenns nicht verklärt würde durch Weingenuß!

oder:


Dieser Krug ist, wie ich, unglücklich lebendig gewesen,
In schöne Locken und Augen verliebt unverständig gewesen,
Dieser Henkel am Halse des Kruges war einst ein Arm,
Der in Umhalsung der Schönen unbändig gewesen!

haben wir den skeptischen Perserpoeten aus dem 11. Jahrhundert in seinem moder¬
nen deutschen Gewände lebendig und charakteristisch vor uns. Daß einer dieser
Perserdichter dem andern verzweifelt ähnlich sieht, daß die Weisheit aller über die
Empfehlung an den geneigten Leser, zu schweigen und fleißig Wein zu trinken, kaum
hinauswächst, ist nicht zu ändern. Bei alledem finden wir auch in den „Liedern
und Sprüchen des Omar ChajjM" eine Reihe tiefrer Gedanken, eine noch größere
hübscher und sinnreicher Einfälle; die Kürze der Sprüche und die energische Poin¬
tierung in der letzten Zeile prägt die besten derselben leicht dem Gedächtniß ein.
Den Freunden orientalischer Muse und Bodenstedtscher Verskunst mögen die Ueber-
tragungen bestens empfohlen sein.


Frau Holde. Gedicht von Rudolf Baumbach. Leipzig, A. G. Liebeskind,
1880.

Der „fahrende Gesell", der uns früher schon zwei Bändchen köstlicher Lieder
gespendet, hat sich wieder rin einer Gabe eingestellt. Sein neues Büchlein erzählt
uns die simple und doch so wundersame Herzensgeschichte von einem armen Berg¬
mann in Thüringen, Frieder, der Festtags zum Tanze die Zither schlägt und voller
Lieder steckt, und seiner trauten Ilse, dem blonden Schäferkinde. Frau Holde über¬
schüttet die beiden, die fest an die gute Göttin glauben, mit allem Glück der Liebe
und rettet sie vor Junker Konrad, dem lüsternen Bösewicht, der ihr Liebesglück unter¬
graben will. Um dieses einfache Thema aber rankt sich wieder eine Fülle echtester,
herzerfreuendster Poesie. Alle die Vorziige, die wir vorm Jahre an den „Liedern
eines fahrenden Gesellen" gerühmt, die innige Vertrautheit des Dichters mit dem
Leben der Natur, die zwingende und überzeugende poetische Kraft, mit der er Mär¬
chenhaftes und Realistisches verschmilzt, das bewundernswürdige Geschick, mit dem
er die abgegriffene Dichtersprache von heute durch die altdeutsche Volkspoesie auf¬
frischt, ohne ihr doch im geringsten einen unbehaglichen alterthümelnden Beigeschmack
zu geben — sie treten auch hier wieder glänzend hervor. „Frau Holde" zeigt aber
zugleich, daß Baumbach nicht bloß lustige Spielmannsweisen zu singen, sondern
auch für das tiefste Weh der Menschenbrust die ergreifendsten Töne zu finden weiß.
Es bleibt dabei: er ist ein gottbegnadetes dichterisches Talent. Sein Stoffgebiet
ist vielleicht nicht umfangreich, und wenn er sich nicht wiederholen will, so wird er
sich möglicherweise rasch einmal ausgesungen haben; aber innerhalb dieses Gebietes
steht er jetzt wohl ziemlich einzig da. Zweierlei wünschen wir seiner Muse von
Herzen, einen immer größern Kreis von Freunden, und daß sie es stets möge ver¬
schmähen können, nach Brot zu gehen und auf Bestellung zu singen, wobei so
manches ehemals erfreuliche Talent sich heutzutage in kläglicher Decadence präsentiert.


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[0478] früher Proben gegeben. Es ist also nicht etwa ein neuer Mirza - Schaffy, eine Maske, hinter der sich das Antlitz des formgewandten, graziös scherzenden deutschen Lyrikers nur halb verbirgt, sondern ein „sichrer" Omar ChajjS-in, der freilich in der Verdeutschung sich ganz in Mirza-Schaffys Formen und Lauten hören läßt. In ein paar Versen: Ich weiß, wie Sein und Nichtsein sich uns offenbaren. In Gründung der höchsten Gedanken bin ich erfahren, Doch all' dieses Wissen wäre nur Scheingenuß, Wenns nicht verklärt würde durch Weingenuß! oder: Dieser Krug ist, wie ich, unglücklich lebendig gewesen, In schöne Locken und Augen verliebt unverständig gewesen, Dieser Henkel am Halse des Kruges war einst ein Arm, Der in Umhalsung der Schönen unbändig gewesen! haben wir den skeptischen Perserpoeten aus dem 11. Jahrhundert in seinem moder¬ nen deutschen Gewände lebendig und charakteristisch vor uns. Daß einer dieser Perserdichter dem andern verzweifelt ähnlich sieht, daß die Weisheit aller über die Empfehlung an den geneigten Leser, zu schweigen und fleißig Wein zu trinken, kaum hinauswächst, ist nicht zu ändern. Bei alledem finden wir auch in den „Liedern und Sprüchen des Omar ChajjM" eine Reihe tiefrer Gedanken, eine noch größere hübscher und sinnreicher Einfälle; die Kürze der Sprüche und die energische Poin¬ tierung in der letzten Zeile prägt die besten derselben leicht dem Gedächtniß ein. Den Freunden orientalischer Muse und Bodenstedtscher Verskunst mögen die Ueber- tragungen bestens empfohlen sein. Frau Holde. Gedicht von Rudolf Baumbach. Leipzig, A. G. Liebeskind, 1880. Der „fahrende Gesell", der uns früher schon zwei Bändchen köstlicher Lieder gespendet, hat sich wieder rin einer Gabe eingestellt. Sein neues Büchlein erzählt uns die simple und doch so wundersame Herzensgeschichte von einem armen Berg¬ mann in Thüringen, Frieder, der Festtags zum Tanze die Zither schlägt und voller Lieder steckt, und seiner trauten Ilse, dem blonden Schäferkinde. Frau Holde über¬ schüttet die beiden, die fest an die gute Göttin glauben, mit allem Glück der Liebe und rettet sie vor Junker Konrad, dem lüsternen Bösewicht, der ihr Liebesglück unter¬ graben will. Um dieses einfache Thema aber rankt sich wieder eine Fülle echtester, herzerfreuendster Poesie. Alle die Vorziige, die wir vorm Jahre an den „Liedern eines fahrenden Gesellen" gerühmt, die innige Vertrautheit des Dichters mit dem Leben der Natur, die zwingende und überzeugende poetische Kraft, mit der er Mär¬ chenhaftes und Realistisches verschmilzt, das bewundernswürdige Geschick, mit dem er die abgegriffene Dichtersprache von heute durch die altdeutsche Volkspoesie auf¬ frischt, ohne ihr doch im geringsten einen unbehaglichen alterthümelnden Beigeschmack zu geben — sie treten auch hier wieder glänzend hervor. „Frau Holde" zeigt aber zugleich, daß Baumbach nicht bloß lustige Spielmannsweisen zu singen, sondern auch für das tiefste Weh der Menschenbrust die ergreifendsten Töne zu finden weiß. Es bleibt dabei: er ist ein gottbegnadetes dichterisches Talent. Sein Stoffgebiet ist vielleicht nicht umfangreich, und wenn er sich nicht wiederholen will, so wird er sich möglicherweise rasch einmal ausgesungen haben; aber innerhalb dieses Gebietes steht er jetzt wohl ziemlich einzig da. Zweierlei wünschen wir seiner Muse von Herzen, einen immer größern Kreis von Freunden, und daß sie es stets möge ver¬ schmähen können, nach Brot zu gehen und auf Bestellung zu singen, wobei so manches ehemals erfreuliche Talent sich heutzutage in kläglicher Decadence präsentiert.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157695/478>, abgerufen am 28.12.2024.