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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Viertes Quartal.

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Arbeit vor, deren Bewältigung die Kräfte eines reifen Alters aufs äußerste in
Anspruch genommen haben würde. Jene neue Versammlung neuer Männer,
betraut mit der Aufgabe, das preußische Volk ans dem Zustande bureaukrati¬
schen Vascillenthums zu den Vorrechten und Verantwortlichkeiten der Freiheit
zu führen, wurde durch die Anstrengung der alten Mächte, Monarchie, Armee
und Verwaltungsorganisation, hinweggefegt, und die demokratische Partei, welche
bei weitem die Mehrzahl des Volkes umfaßte, zog sich vou der parlamentari¬
schen Arena zurück. Die politische Wissenschaft und die Regierungskunst lösten
sich bei ihr in Anbetung abstracter Theorien und in die Gewohnheit auf, alles
zu tadeln und höhnisch zu belächeln, was gethan wurde. Auch erlangte sie
keinen erheblichen Vortheil von ihrer Verschmelzung mit der Gothaner- oder
Professoren-Partei, einer Verschmelzung, deren Product sich die Fortschritts¬
partei zu taufen beliebte.

Nicht jedermann hat Gelegenheit und Muße, die Wissenschaft der Politik
zu studieren; wohl aber kann jedermann etwas von der Kunst der Politik wie
von jeder andern Geschicklichkeit auflesen, vorausgesetzt, daß er Gelegenheit zum
Beobachten, ein Auge für das Beobachte" und einen geschickten Griff hat, um
seine Hand einen Versuch machen zu lassen. In Preußen hatte es an jener
Gelegenheit und diesem guten Sinne für den Versuch im kleinen Maßstabe ge¬
mangelt. Die Wähler wußten nicht, wie ein politischer Mann zu erproben ist.
Wenn sie zur Ausübung ihres Wahlrechts zurückkehrten, verfielen sie in einen
entschuldbaren, aber beklagenswerthen Irrthum: sie dachte", dieser Mann ist ein
vortrefflicher Physiker, Anatom, Naturforscher, Schullehrer, er ist ein Geist ersten
Ranges in seinem Berufe, seiner Wissenschaft, er wird einen ausgezeichneten
Abgeordneten abgeben. Die Folge dieses Mißverständnisses kann durch Umkeh-
rung eines Ausspruches des Aristoteles ausgedrückt werden. Eine gesetzgebende
Versammlung zeigt, sagt er, in ihrer corporativen Befähigung eine Intelligenz,
die höher steht als die jedes einzelnen Mitgliedes. 1861 ist häufig die Bemer¬
kung gemacht worden, daß fast jedes Mitglied des Abgeordnetenhauses, wenn
man es beiseite nahm und mit ihm sprach, sich als ganz vernünftiger Mensch
erwies, daß sie aber, sobald sie in jenem verwünschten, schlecht gelüfteten Saale
am Dönhofsplatze zusammenkamen, verrückt wurden."

So der Correspondent des New-Iorker Blattes im Jahre 1866. Seitdem
ist es zweitweilig besser geworden, aber nicht stetig und bei weitem nicht ge¬
nügend, und wenn man in der Fortschrittspartei und unter weiter links stehen¬
den Psendvpolitikern noch vom Jnnkerthume Bismarcks sprechen hört, so kaun
man andrerseits wohl begreifen, mit welcher tiefen Geringschätzung er auf diese
und andere unbelehrbare und unverbesserliche Doctrinäre mit ihrer Borniertheit,
ihrer politischen Impotenz und ihrem pathetischen Dünkel herabsieht.


Arbeit vor, deren Bewältigung die Kräfte eines reifen Alters aufs äußerste in
Anspruch genommen haben würde. Jene neue Versammlung neuer Männer,
betraut mit der Aufgabe, das preußische Volk ans dem Zustande bureaukrati¬
schen Vascillenthums zu den Vorrechten und Verantwortlichkeiten der Freiheit
zu führen, wurde durch die Anstrengung der alten Mächte, Monarchie, Armee
und Verwaltungsorganisation, hinweggefegt, und die demokratische Partei, welche
bei weitem die Mehrzahl des Volkes umfaßte, zog sich vou der parlamentari¬
schen Arena zurück. Die politische Wissenschaft und die Regierungskunst lösten
sich bei ihr in Anbetung abstracter Theorien und in die Gewohnheit auf, alles
zu tadeln und höhnisch zu belächeln, was gethan wurde. Auch erlangte sie
keinen erheblichen Vortheil von ihrer Verschmelzung mit der Gothaner- oder
Professoren-Partei, einer Verschmelzung, deren Product sich die Fortschritts¬
partei zu taufen beliebte.

Nicht jedermann hat Gelegenheit und Muße, die Wissenschaft der Politik
zu studieren; wohl aber kann jedermann etwas von der Kunst der Politik wie
von jeder andern Geschicklichkeit auflesen, vorausgesetzt, daß er Gelegenheit zum
Beobachten, ein Auge für das Beobachte» und einen geschickten Griff hat, um
seine Hand einen Versuch machen zu lassen. In Preußen hatte es an jener
Gelegenheit und diesem guten Sinne für den Versuch im kleinen Maßstabe ge¬
mangelt. Die Wähler wußten nicht, wie ein politischer Mann zu erproben ist.
Wenn sie zur Ausübung ihres Wahlrechts zurückkehrten, verfielen sie in einen
entschuldbaren, aber beklagenswerthen Irrthum: sie dachte«, dieser Mann ist ein
vortrefflicher Physiker, Anatom, Naturforscher, Schullehrer, er ist ein Geist ersten
Ranges in seinem Berufe, seiner Wissenschaft, er wird einen ausgezeichneten
Abgeordneten abgeben. Die Folge dieses Mißverständnisses kann durch Umkeh-
rung eines Ausspruches des Aristoteles ausgedrückt werden. Eine gesetzgebende
Versammlung zeigt, sagt er, in ihrer corporativen Befähigung eine Intelligenz,
die höher steht als die jedes einzelnen Mitgliedes. 1861 ist häufig die Bemer¬
kung gemacht worden, daß fast jedes Mitglied des Abgeordnetenhauses, wenn
man es beiseite nahm und mit ihm sprach, sich als ganz vernünftiger Mensch
erwies, daß sie aber, sobald sie in jenem verwünschten, schlecht gelüfteten Saale
am Dönhofsplatze zusammenkamen, verrückt wurden."

So der Correspondent des New-Iorker Blattes im Jahre 1866. Seitdem
ist es zweitweilig besser geworden, aber nicht stetig und bei weitem nicht ge¬
nügend, und wenn man in der Fortschrittspartei und unter weiter links stehen¬
den Psendvpolitikern noch vom Jnnkerthume Bismarcks sprechen hört, so kaun
man andrerseits wohl begreifen, mit welcher tiefen Geringschätzung er auf diese
und andere unbelehrbare und unverbesserliche Doctrinäre mit ihrer Borniertheit,
ihrer politischen Impotenz und ihrem pathetischen Dünkel herabsieht.


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[0394] Arbeit vor, deren Bewältigung die Kräfte eines reifen Alters aufs äußerste in Anspruch genommen haben würde. Jene neue Versammlung neuer Männer, betraut mit der Aufgabe, das preußische Volk ans dem Zustande bureaukrati¬ schen Vascillenthums zu den Vorrechten und Verantwortlichkeiten der Freiheit zu führen, wurde durch die Anstrengung der alten Mächte, Monarchie, Armee und Verwaltungsorganisation, hinweggefegt, und die demokratische Partei, welche bei weitem die Mehrzahl des Volkes umfaßte, zog sich vou der parlamentari¬ schen Arena zurück. Die politische Wissenschaft und die Regierungskunst lösten sich bei ihr in Anbetung abstracter Theorien und in die Gewohnheit auf, alles zu tadeln und höhnisch zu belächeln, was gethan wurde. Auch erlangte sie keinen erheblichen Vortheil von ihrer Verschmelzung mit der Gothaner- oder Professoren-Partei, einer Verschmelzung, deren Product sich die Fortschritts¬ partei zu taufen beliebte. Nicht jedermann hat Gelegenheit und Muße, die Wissenschaft der Politik zu studieren; wohl aber kann jedermann etwas von der Kunst der Politik wie von jeder andern Geschicklichkeit auflesen, vorausgesetzt, daß er Gelegenheit zum Beobachten, ein Auge für das Beobachte» und einen geschickten Griff hat, um seine Hand einen Versuch machen zu lassen. In Preußen hatte es an jener Gelegenheit und diesem guten Sinne für den Versuch im kleinen Maßstabe ge¬ mangelt. Die Wähler wußten nicht, wie ein politischer Mann zu erproben ist. Wenn sie zur Ausübung ihres Wahlrechts zurückkehrten, verfielen sie in einen entschuldbaren, aber beklagenswerthen Irrthum: sie dachte«, dieser Mann ist ein vortrefflicher Physiker, Anatom, Naturforscher, Schullehrer, er ist ein Geist ersten Ranges in seinem Berufe, seiner Wissenschaft, er wird einen ausgezeichneten Abgeordneten abgeben. Die Folge dieses Mißverständnisses kann durch Umkeh- rung eines Ausspruches des Aristoteles ausgedrückt werden. Eine gesetzgebende Versammlung zeigt, sagt er, in ihrer corporativen Befähigung eine Intelligenz, die höher steht als die jedes einzelnen Mitgliedes. 1861 ist häufig die Bemer¬ kung gemacht worden, daß fast jedes Mitglied des Abgeordnetenhauses, wenn man es beiseite nahm und mit ihm sprach, sich als ganz vernünftiger Mensch erwies, daß sie aber, sobald sie in jenem verwünschten, schlecht gelüfteten Saale am Dönhofsplatze zusammenkamen, verrückt wurden." So der Correspondent des New-Iorker Blattes im Jahre 1866. Seitdem ist es zweitweilig besser geworden, aber nicht stetig und bei weitem nicht ge¬ nügend, und wenn man in der Fortschrittspartei und unter weiter links stehen¬ den Psendvpolitikern noch vom Jnnkerthume Bismarcks sprechen hört, so kaun man andrerseits wohl begreifen, mit welcher tiefen Geringschätzung er auf diese und andere unbelehrbare und unverbesserliche Doctrinäre mit ihrer Borniertheit, ihrer politischen Impotenz und ihrem pathetischen Dünkel herabsieht.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157695/394>, abgerufen am 29.12.2024.