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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Viertes Quartal.

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"Jugenderinnerungen" des Bildhauers Ernst Rietschel in die Augen, welche
den ersten Abschnitt der bereits in zwei Auflagen erschienenen Biographie Ernst
Rietschels von Andreas Oppermann (Leipzig 1863 und 1873) bilden. Ehrlich
gesagt, erweckt uns die Trennung dieser prächtig schlichten, in ihrer Weise
classischen Erinnerungen von dem Buche Oppermcmns eine getheilte Empfindung.
Sie brechen zu jäh ab und können volle Befriedigung doch nur bei denjenigen
Lesern wecken, welche das Gegenbild zu dieser ringenden, darbenden, aber muthig
und unablässig einem Ideal zugewandten Jugend in der Erzählung des Biogra¬
phen von dem nicht minder arbeitsreichen, doch sieghaften und im ganzen glück¬
lichen Mannesleben des Künstlers empfangen. Indeß mag man sich vorgestellt
haben, daß das Hauptlebensresultat des Schöpfers der Lessing- und Luther- und
der Goethe-Schillerstandbilder allgemein bekannt sei, und mag von der an sich
richtigen Betrachtung ausgegangen sein, daß diese "Jugenderinnerungen" als ein
Stück Leben eines seltenen Menschen anch da einer Verbreitung würdig und
sähig sind, wo man an der nachmaligen Entwicklung 'des Meisters der Bild¬
hauerkunst keinen besondern Antheil nehmen kann und will. Und schließlich darf
mau ja hoffen, daß die Kenntniß der autobiographischen Aufzeichnungen Rietschels,
das am Menschen erweckte Interesse hie und da auch dem Künstler und dem
gute" Buche, welches dessen Thätigkeit schildert, zu gute kommen wird. In¬
zwischen läßt sich nur wünschen, daß die "Jugenderinnerungen" Ernst Rietschels
viel gelesen, voll genossen und vor allem recht gelesen werden.

Wir Deutschen sind bekanntlich geneigt, den Glauben, den eine Generation
gehegt, in der nächsten mit Stumpf und Stiel auszureißen und fortan als über-
wuuduen Standpunkt zu behandeln. Daß uns dann die Thatsachen des ge¬
sunden Lebens, welches in seiner unendlichen Mannichfaltigkeit sich dem gerade
in Geltung stehenden, allein heilbringenden Satze niemals unterordnet, gelegentlich
widerlegen, geht natürlich genug zu. In früherer Zeit haben wir mit vollem
Bewußtsein und guter Zuversicht es als besondern Vorzug unsers Volkes er¬
achtet, daß sich so viele unsrer tüchtigsten und geistig höchststehenden Männer
ans den ärmsten Schichten mit dem ganzen Einsatz ihrer Kraft und eines
edeln Willens emporgearbeitet haben. Kaum ist es damals jemand eingefallen,
die Betrachtung anzustellen, daß solches Emporarbeiten unter ungünstigen Um¬
ständen seine bedenkliche Kehrseite haben und die künftige Entwicklung des
Mannes schädigen, ja seinen freudigen Lebensmuth für immer brechen könne.
Heute, wo gewisse wissenschaftliche Richtungen und Leistungen nur für Glück¬
begünstigte möglich sind, wo die Werthschätzung des Capitals als Vorbedingung
und Grundlage auch idealer Bestrebungen zugenommen hat, und das, was mau
in England "Respectabilität" und "Unabhängigkeit" zu nennen Pflegt, in fast
bedenklicher Weise als unerläßliche Voraussetzung guter und fruchtbringender


„Jugenderinnerungen" des Bildhauers Ernst Rietschel in die Augen, welche
den ersten Abschnitt der bereits in zwei Auflagen erschienenen Biographie Ernst
Rietschels von Andreas Oppermann (Leipzig 1863 und 1873) bilden. Ehrlich
gesagt, erweckt uns die Trennung dieser prächtig schlichten, in ihrer Weise
classischen Erinnerungen von dem Buche Oppermcmns eine getheilte Empfindung.
Sie brechen zu jäh ab und können volle Befriedigung doch nur bei denjenigen
Lesern wecken, welche das Gegenbild zu dieser ringenden, darbenden, aber muthig
und unablässig einem Ideal zugewandten Jugend in der Erzählung des Biogra¬
phen von dem nicht minder arbeitsreichen, doch sieghaften und im ganzen glück¬
lichen Mannesleben des Künstlers empfangen. Indeß mag man sich vorgestellt
haben, daß das Hauptlebensresultat des Schöpfers der Lessing- und Luther- und
der Goethe-Schillerstandbilder allgemein bekannt sei, und mag von der an sich
richtigen Betrachtung ausgegangen sein, daß diese „Jugenderinnerungen" als ein
Stück Leben eines seltenen Menschen anch da einer Verbreitung würdig und
sähig sind, wo man an der nachmaligen Entwicklung 'des Meisters der Bild¬
hauerkunst keinen besondern Antheil nehmen kann und will. Und schließlich darf
mau ja hoffen, daß die Kenntniß der autobiographischen Aufzeichnungen Rietschels,
das am Menschen erweckte Interesse hie und da auch dem Künstler und dem
gute» Buche, welches dessen Thätigkeit schildert, zu gute kommen wird. In¬
zwischen läßt sich nur wünschen, daß die „Jugenderinnerungen" Ernst Rietschels
viel gelesen, voll genossen und vor allem recht gelesen werden.

Wir Deutschen sind bekanntlich geneigt, den Glauben, den eine Generation
gehegt, in der nächsten mit Stumpf und Stiel auszureißen und fortan als über-
wuuduen Standpunkt zu behandeln. Daß uns dann die Thatsachen des ge¬
sunden Lebens, welches in seiner unendlichen Mannichfaltigkeit sich dem gerade
in Geltung stehenden, allein heilbringenden Satze niemals unterordnet, gelegentlich
widerlegen, geht natürlich genug zu. In früherer Zeit haben wir mit vollem
Bewußtsein und guter Zuversicht es als besondern Vorzug unsers Volkes er¬
achtet, daß sich so viele unsrer tüchtigsten und geistig höchststehenden Männer
ans den ärmsten Schichten mit dem ganzen Einsatz ihrer Kraft und eines
edeln Willens emporgearbeitet haben. Kaum ist es damals jemand eingefallen,
die Betrachtung anzustellen, daß solches Emporarbeiten unter ungünstigen Um¬
ständen seine bedenkliche Kehrseite haben und die künftige Entwicklung des
Mannes schädigen, ja seinen freudigen Lebensmuth für immer brechen könne.
Heute, wo gewisse wissenschaftliche Richtungen und Leistungen nur für Glück¬
begünstigte möglich sind, wo die Werthschätzung des Capitals als Vorbedingung
und Grundlage auch idealer Bestrebungen zugenommen hat, und das, was mau
in England „Respectabilität" und „Unabhängigkeit" zu nennen Pflegt, in fast
bedenklicher Weise als unerläßliche Voraussetzung guter und fruchtbringender


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[0367] „Jugenderinnerungen" des Bildhauers Ernst Rietschel in die Augen, welche den ersten Abschnitt der bereits in zwei Auflagen erschienenen Biographie Ernst Rietschels von Andreas Oppermann (Leipzig 1863 und 1873) bilden. Ehrlich gesagt, erweckt uns die Trennung dieser prächtig schlichten, in ihrer Weise classischen Erinnerungen von dem Buche Oppermcmns eine getheilte Empfindung. Sie brechen zu jäh ab und können volle Befriedigung doch nur bei denjenigen Lesern wecken, welche das Gegenbild zu dieser ringenden, darbenden, aber muthig und unablässig einem Ideal zugewandten Jugend in der Erzählung des Biogra¬ phen von dem nicht minder arbeitsreichen, doch sieghaften und im ganzen glück¬ lichen Mannesleben des Künstlers empfangen. Indeß mag man sich vorgestellt haben, daß das Hauptlebensresultat des Schöpfers der Lessing- und Luther- und der Goethe-Schillerstandbilder allgemein bekannt sei, und mag von der an sich richtigen Betrachtung ausgegangen sein, daß diese „Jugenderinnerungen" als ein Stück Leben eines seltenen Menschen anch da einer Verbreitung würdig und sähig sind, wo man an der nachmaligen Entwicklung 'des Meisters der Bild¬ hauerkunst keinen besondern Antheil nehmen kann und will. Und schließlich darf mau ja hoffen, daß die Kenntniß der autobiographischen Aufzeichnungen Rietschels, das am Menschen erweckte Interesse hie und da auch dem Künstler und dem gute» Buche, welches dessen Thätigkeit schildert, zu gute kommen wird. In¬ zwischen läßt sich nur wünschen, daß die „Jugenderinnerungen" Ernst Rietschels viel gelesen, voll genossen und vor allem recht gelesen werden. Wir Deutschen sind bekanntlich geneigt, den Glauben, den eine Generation gehegt, in der nächsten mit Stumpf und Stiel auszureißen und fortan als über- wuuduen Standpunkt zu behandeln. Daß uns dann die Thatsachen des ge¬ sunden Lebens, welches in seiner unendlichen Mannichfaltigkeit sich dem gerade in Geltung stehenden, allein heilbringenden Satze niemals unterordnet, gelegentlich widerlegen, geht natürlich genug zu. In früherer Zeit haben wir mit vollem Bewußtsein und guter Zuversicht es als besondern Vorzug unsers Volkes er¬ achtet, daß sich so viele unsrer tüchtigsten und geistig höchststehenden Männer ans den ärmsten Schichten mit dem ganzen Einsatz ihrer Kraft und eines edeln Willens emporgearbeitet haben. Kaum ist es damals jemand eingefallen, die Betrachtung anzustellen, daß solches Emporarbeiten unter ungünstigen Um¬ ständen seine bedenkliche Kehrseite haben und die künftige Entwicklung des Mannes schädigen, ja seinen freudigen Lebensmuth für immer brechen könne. Heute, wo gewisse wissenschaftliche Richtungen und Leistungen nur für Glück¬ begünstigte möglich sind, wo die Werthschätzung des Capitals als Vorbedingung und Grundlage auch idealer Bestrebungen zugenommen hat, und das, was mau in England „Respectabilität" und „Unabhängigkeit" zu nennen Pflegt, in fast bedenklicher Weise als unerläßliche Voraussetzung guter und fruchtbringender

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157695/367>, abgerufen am 28.12.2024.