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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Viertes Quartal.

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deuten Geist billiger Gemeingefühle verdunkelt oder ausgetrieben hat, so daß
das deutsche Volk, mit Blindheit geschlagen, nichts vermag, als gegen sein eigenes
Fleisch zu wüthen.

Leider können wir weder den Polen noch unserer eigenen Nation den Vor¬
wurf ersparen, daß sie den Weltgesetzen gegenüber eine zu große Unbefangenheit
besitzen. Wir weisen von vornherein die Auffassung von uns ab, als ob wir
meinten, dein Judenthum zürnen zu sollen. Die ihm innewohnende vegetative
Potenz, mit welcher es in einer uns nicht sympathischen, vielfach sogar unbe¬
greiflichen Art und Weise nach den guten Dingen dieser Welt, nach Licht und
Luft, nach Reichthum und Herrschaft strebt, fordert uns zu einer wesentlich
anderen Ausfassung auf, als wie sie den sogenannten Judenfressern innewohnt.
Wir möchten uus aus dieser Beschränktheit auf einen naturphilosophischen Stand¬
punkt retten, der die Toleranz in keiner Weise ausschließt, und erklären, auch
für den Fall, daß uns einmal der Appetit anwandeln sollte, dennoch selbst den
besten Braten in der landesüblichen Sauce nicht goutiren zu können. So aus¬
gehungert sind wir eben noch nicht. Die Lebenskraft, welche im Judenthum
steckt, ist uns ehrwürdig, sie fordert sogar vielfach unsere Bewunderung heraus.
Wir wollen daher auch nicht Haß, Hader und Neid mit der folgenden Betrach¬
tung wecken, sondern nur darthun, daß eben unsere bisherige Unbefangenheit,
dem Judenthum selbst zum Schaden, dessen Ueberwuchern herbeiführt, und daß
wir auf dein Wege der antisemitischen Regungen den Unterschied aus den Augen
verloren haben, welcher zwischen einer wohlberechtigten eigenen Regsamkeit zum
Zweck der Selbsterhaltung und Selbstbestimmung und der bloßen scheelsüch¬
tigen, alle bessere Kraft lähmenden Unduldsamkeit besteht. Wenn der Pole sich
mißmuthig auf die Seite wälzt, sich dem Trunke ergiebt und in der Untätig¬
keit verharrt, weil er seine nationalen Güter dem Judenthum verfallen sieht, so
sollten wir bestrebt sein, alle die vielen unserem Fleische anhaftenden Fehler
abzulegen, welche einen solchen Verfall auch bei uns unvermeidlich machen
zu wollen scheinen. Wir haben das Ueberwuchern der einen Potenz lediglich
der Indolenz der anderen zuzuschreiben. Und zwar ist diese Indolenz vor allen
Dingen in einem Zustande des Gemüths zu suchen, der uns stumpf macht gegen
unsere eigene Schwäche uns trotz aller Erkenntniß in Hader und Kleinlichkeit
versinken und deshalb machtlos erscheinen läßt gegenüber dem "Genius" des
jüdischen Volkes.

Unsere Literatur, vor allem der wesentliche Theil derselben, welcher mit
der Bühne zusammenhängt, tritt uns in erster Linie als Vehikel der Gemüths¬
welt unseres Volkes entgegen. Man kann ein Volk an seiner Bühne erkennen.
Es gab eine Zeit, wo für die Bühne zu wirken auch bei uns als eine der
ehrenvollsten Aufgaben der leitenden Geister der Nation angesehen wurde. Das


deuten Geist billiger Gemeingefühle verdunkelt oder ausgetrieben hat, so daß
das deutsche Volk, mit Blindheit geschlagen, nichts vermag, als gegen sein eigenes
Fleisch zu wüthen.

Leider können wir weder den Polen noch unserer eigenen Nation den Vor¬
wurf ersparen, daß sie den Weltgesetzen gegenüber eine zu große Unbefangenheit
besitzen. Wir weisen von vornherein die Auffassung von uns ab, als ob wir
meinten, dein Judenthum zürnen zu sollen. Die ihm innewohnende vegetative
Potenz, mit welcher es in einer uns nicht sympathischen, vielfach sogar unbe¬
greiflichen Art und Weise nach den guten Dingen dieser Welt, nach Licht und
Luft, nach Reichthum und Herrschaft strebt, fordert uns zu einer wesentlich
anderen Ausfassung auf, als wie sie den sogenannten Judenfressern innewohnt.
Wir möchten uus aus dieser Beschränktheit auf einen naturphilosophischen Stand¬
punkt retten, der die Toleranz in keiner Weise ausschließt, und erklären, auch
für den Fall, daß uns einmal der Appetit anwandeln sollte, dennoch selbst den
besten Braten in der landesüblichen Sauce nicht goutiren zu können. So aus¬
gehungert sind wir eben noch nicht. Die Lebenskraft, welche im Judenthum
steckt, ist uns ehrwürdig, sie fordert sogar vielfach unsere Bewunderung heraus.
Wir wollen daher auch nicht Haß, Hader und Neid mit der folgenden Betrach¬
tung wecken, sondern nur darthun, daß eben unsere bisherige Unbefangenheit,
dem Judenthum selbst zum Schaden, dessen Ueberwuchern herbeiführt, und daß
wir auf dein Wege der antisemitischen Regungen den Unterschied aus den Augen
verloren haben, welcher zwischen einer wohlberechtigten eigenen Regsamkeit zum
Zweck der Selbsterhaltung und Selbstbestimmung und der bloßen scheelsüch¬
tigen, alle bessere Kraft lähmenden Unduldsamkeit besteht. Wenn der Pole sich
mißmuthig auf die Seite wälzt, sich dem Trunke ergiebt und in der Untätig¬
keit verharrt, weil er seine nationalen Güter dem Judenthum verfallen sieht, so
sollten wir bestrebt sein, alle die vielen unserem Fleische anhaftenden Fehler
abzulegen, welche einen solchen Verfall auch bei uns unvermeidlich machen
zu wollen scheinen. Wir haben das Ueberwuchern der einen Potenz lediglich
der Indolenz der anderen zuzuschreiben. Und zwar ist diese Indolenz vor allen
Dingen in einem Zustande des Gemüths zu suchen, der uns stumpf macht gegen
unsere eigene Schwäche uns trotz aller Erkenntniß in Hader und Kleinlichkeit
versinken und deshalb machtlos erscheinen läßt gegenüber dem „Genius" des
jüdischen Volkes.

Unsere Literatur, vor allem der wesentliche Theil derselben, welcher mit
der Bühne zusammenhängt, tritt uns in erster Linie als Vehikel der Gemüths¬
welt unseres Volkes entgegen. Man kann ein Volk an seiner Bühne erkennen.
Es gab eine Zeit, wo für die Bühne zu wirken auch bei uns als eine der
ehrenvollsten Aufgaben der leitenden Geister der Nation angesehen wurde. Das


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[0034] deuten Geist billiger Gemeingefühle verdunkelt oder ausgetrieben hat, so daß das deutsche Volk, mit Blindheit geschlagen, nichts vermag, als gegen sein eigenes Fleisch zu wüthen. Leider können wir weder den Polen noch unserer eigenen Nation den Vor¬ wurf ersparen, daß sie den Weltgesetzen gegenüber eine zu große Unbefangenheit besitzen. Wir weisen von vornherein die Auffassung von uns ab, als ob wir meinten, dein Judenthum zürnen zu sollen. Die ihm innewohnende vegetative Potenz, mit welcher es in einer uns nicht sympathischen, vielfach sogar unbe¬ greiflichen Art und Weise nach den guten Dingen dieser Welt, nach Licht und Luft, nach Reichthum und Herrschaft strebt, fordert uns zu einer wesentlich anderen Ausfassung auf, als wie sie den sogenannten Judenfressern innewohnt. Wir möchten uus aus dieser Beschränktheit auf einen naturphilosophischen Stand¬ punkt retten, der die Toleranz in keiner Weise ausschließt, und erklären, auch für den Fall, daß uns einmal der Appetit anwandeln sollte, dennoch selbst den besten Braten in der landesüblichen Sauce nicht goutiren zu können. So aus¬ gehungert sind wir eben noch nicht. Die Lebenskraft, welche im Judenthum steckt, ist uns ehrwürdig, sie fordert sogar vielfach unsere Bewunderung heraus. Wir wollen daher auch nicht Haß, Hader und Neid mit der folgenden Betrach¬ tung wecken, sondern nur darthun, daß eben unsere bisherige Unbefangenheit, dem Judenthum selbst zum Schaden, dessen Ueberwuchern herbeiführt, und daß wir auf dein Wege der antisemitischen Regungen den Unterschied aus den Augen verloren haben, welcher zwischen einer wohlberechtigten eigenen Regsamkeit zum Zweck der Selbsterhaltung und Selbstbestimmung und der bloßen scheelsüch¬ tigen, alle bessere Kraft lähmenden Unduldsamkeit besteht. Wenn der Pole sich mißmuthig auf die Seite wälzt, sich dem Trunke ergiebt und in der Untätig¬ keit verharrt, weil er seine nationalen Güter dem Judenthum verfallen sieht, so sollten wir bestrebt sein, alle die vielen unserem Fleische anhaftenden Fehler abzulegen, welche einen solchen Verfall auch bei uns unvermeidlich machen zu wollen scheinen. Wir haben das Ueberwuchern der einen Potenz lediglich der Indolenz der anderen zuzuschreiben. Und zwar ist diese Indolenz vor allen Dingen in einem Zustande des Gemüths zu suchen, der uns stumpf macht gegen unsere eigene Schwäche uns trotz aller Erkenntniß in Hader und Kleinlichkeit versinken und deshalb machtlos erscheinen läßt gegenüber dem „Genius" des jüdischen Volkes. Unsere Literatur, vor allem der wesentliche Theil derselben, welcher mit der Bühne zusammenhängt, tritt uns in erster Linie als Vehikel der Gemüths¬ welt unseres Volkes entgegen. Man kann ein Volk an seiner Bühne erkennen. Es gab eine Zeit, wo für die Bühne zu wirken auch bei uns als eine der ehrenvollsten Aufgaben der leitenden Geister der Nation angesehen wurde. Das

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157695/34>, abgerufen am 28.12.2024.