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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Viertes Quartal.

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einen moralischen Zweck. Nach Goethe hat sie einen rein ästhetischen -- ob sich
nebenbei auch noch eine moralische Folge ergiebt, liegt von Anfang an gar nicht
in seiner Absicht; tritt sie ein, so ist es gut, tritt sie nicht ein, so ist das kein
Vorwurf für den Dichter, der eine andere Aufgabe hat, die selbst dann keine
moralische wäre, wenn die Lessing-Winckelmannsche Ansicht, die Aufgabe der
Kunst sei Darstellung der Schönheit, richtig wäre, von Biedermann selbst hat
in seinem Aufsatze sehr schön "Miß Sara Sampson" und "Stella" in Parallele
gesetzt. Ihr Gegensatz beruht recht eigentlich auf dem Unterschiede der Auf¬
fassung der Poesie als eines Mittels moralischer Belehrung und ästhetischer Wir¬
kung. Ging doch Goethe ursprünglich in der rein ästhetischen Durchführung
seines dramatischen Problems so weit, daß die Lösung in schroffen Gegensatz zu
unsrer moralischer Auffassung derselben tritt. Dieser Gegensatz macht auch
Lessings Urtheil über "Werthers Leiden" verständlich und natürlich. Erscheint
doch in dieser Dichtung der Selbstmord aus übertriebener Empfindsamkeit wie
gerechtfertigt, ja wie glorificiert (was ja auch die Folgen des Buches bestätigt
haben). Da verlangt denn der moralische Dichter "noch ein Capitelchen am
Schlüsse! Und je cynischer, desto besser", damit nur ja nicht "die poetische
Schönheit für eine moralische" genommen werden möchte. Dem ästhetischen
Dichter liegt eine solche Möglichkeit so fern, daß er über die thatsächlich nach
dieser Richtung hiu eingetretenen, auf dieser seinen Zeitgenossen noch geläufigen Ver¬
wechslung beruhenden Folgen selbst erschrickt. Lessing erkannte diesen Unter¬
schied sehr deutlich; seine Welt fühlte er untergehen, eine neue, ihm fremde
heraufsteigen, die Arbeit, die er gethan hatte, schien ihm nach dieser Richtung
hin eine Verlorne. Und das hätte ihn nicht erbittern sollen? sollte uns heute
seiue Erbitterung nicht hinlänglich begreiflich erscheinen lassen, ohne daß wir
eine Anzweiflung seines Charakters zu Hilfe rufen müßten? Daß sich Goethe
im Verhältniß zu Schiller ganz anders benahm, ist selbstverständlich. Goethe
war auch durch Schillers Auftreten, das eine Gattung von Poesie aufs neue
zur Herrschaft zu bringen drohte, die er selbst glücklich überwunden hatte, von
dem jüngern Dichter abgestoßen. Wenn er ihm aber später "mit rückhaltloser
Freundlichkeit" entgegenkam, so geschah das nicht "dem Bittenden" gegenüber,
sondern dem Manne, der durch ernste Arbeit sich zu der reinen Auffassung der
Poesie durchgekämpft hatte, die der ältere Dichter schon früher errungen hatte;
sie erkannten sich als Bundesgenossen, als Vertheidiger desselben Postens. Das
ist bei Goethe Lessing gegenüber nie der Fall gewesen und konnte es Nichtsein,
weil Goethes Auftreten trotz Regellosigkeit dem Wesen nach ein Schritt vor¬
wärts, ein Schritt über Lessing hinaus war; sie konnten sich auf diesem Gebiete
nicht als Verbündete erkennen, sie mußten sich ausschließen, wie es auch Goethe
Lessing gegenüber gethan hat und mit Recht gethan hat, wenn er sein Urtheil


einen moralischen Zweck. Nach Goethe hat sie einen rein ästhetischen — ob sich
nebenbei auch noch eine moralische Folge ergiebt, liegt von Anfang an gar nicht
in seiner Absicht; tritt sie ein, so ist es gut, tritt sie nicht ein, so ist das kein
Vorwurf für den Dichter, der eine andere Aufgabe hat, die selbst dann keine
moralische wäre, wenn die Lessing-Winckelmannsche Ansicht, die Aufgabe der
Kunst sei Darstellung der Schönheit, richtig wäre, von Biedermann selbst hat
in seinem Aufsatze sehr schön „Miß Sara Sampson" und „Stella" in Parallele
gesetzt. Ihr Gegensatz beruht recht eigentlich auf dem Unterschiede der Auf¬
fassung der Poesie als eines Mittels moralischer Belehrung und ästhetischer Wir¬
kung. Ging doch Goethe ursprünglich in der rein ästhetischen Durchführung
seines dramatischen Problems so weit, daß die Lösung in schroffen Gegensatz zu
unsrer moralischer Auffassung derselben tritt. Dieser Gegensatz macht auch
Lessings Urtheil über „Werthers Leiden" verständlich und natürlich. Erscheint
doch in dieser Dichtung der Selbstmord aus übertriebener Empfindsamkeit wie
gerechtfertigt, ja wie glorificiert (was ja auch die Folgen des Buches bestätigt
haben). Da verlangt denn der moralische Dichter „noch ein Capitelchen am
Schlüsse! Und je cynischer, desto besser", damit nur ja nicht „die poetische
Schönheit für eine moralische" genommen werden möchte. Dem ästhetischen
Dichter liegt eine solche Möglichkeit so fern, daß er über die thatsächlich nach
dieser Richtung hiu eingetretenen, auf dieser seinen Zeitgenossen noch geläufigen Ver¬
wechslung beruhenden Folgen selbst erschrickt. Lessing erkannte diesen Unter¬
schied sehr deutlich; seine Welt fühlte er untergehen, eine neue, ihm fremde
heraufsteigen, die Arbeit, die er gethan hatte, schien ihm nach dieser Richtung
hin eine Verlorne. Und das hätte ihn nicht erbittern sollen? sollte uns heute
seiue Erbitterung nicht hinlänglich begreiflich erscheinen lassen, ohne daß wir
eine Anzweiflung seines Charakters zu Hilfe rufen müßten? Daß sich Goethe
im Verhältniß zu Schiller ganz anders benahm, ist selbstverständlich. Goethe
war auch durch Schillers Auftreten, das eine Gattung von Poesie aufs neue
zur Herrschaft zu bringen drohte, die er selbst glücklich überwunden hatte, von
dem jüngern Dichter abgestoßen. Wenn er ihm aber später „mit rückhaltloser
Freundlichkeit" entgegenkam, so geschah das nicht „dem Bittenden" gegenüber,
sondern dem Manne, der durch ernste Arbeit sich zu der reinen Auffassung der
Poesie durchgekämpft hatte, die der ältere Dichter schon früher errungen hatte;
sie erkannten sich als Bundesgenossen, als Vertheidiger desselben Postens. Das
ist bei Goethe Lessing gegenüber nie der Fall gewesen und konnte es Nichtsein,
weil Goethes Auftreten trotz Regellosigkeit dem Wesen nach ein Schritt vor¬
wärts, ein Schritt über Lessing hinaus war; sie konnten sich auf diesem Gebiete
nicht als Verbündete erkennen, sie mußten sich ausschließen, wie es auch Goethe
Lessing gegenüber gethan hat und mit Recht gethan hat, wenn er sein Urtheil


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157695/330>, abgerufen am 28.12.2024.