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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Viertes Quartal.

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("Lessings persönliches und literarisches Verhältniß zu Klopstock") nachgewiesen,
scharf das wirklich dichterische von dem nur überschwenglichen und verschwom¬
menen unterschieden hat. Allein selbst wenn man die Behauptung von der
Unempfänglichkeit Lessings für dichterische Schönheiten zugeben wollte, was wir
nicht thu", so behielte doch die Zurückführung des absprechender Urtheils Lessings
auf den Neid etwas sehr Bedenkliches. Neid entsteht entweder aus Erkenntniß
von Vorzügen, die ein anderer hat, die einem selbst aber abgehen. Hieraus
würde Lessings Neid nicht herrühren können, da ihm ja gerade die Fähigkeit,
dichterische Schönheiten zu erkennen, abgesprochen wird, und zwar, wie wir
hinzufügen wollen, trotz seines von dem Verfasser selbst angeführten ersten Ein¬
drucks von "Werthers Leiden", trotzdem daß der Verfasser selbst zugiebt', daß
Lessing, "vom ersten Eindruck der Dichtungen Goethes überwältigt, freudige
Theilnahme verrathen hat." Der Neid kann aber ferner durch äußere Erfolge
entstehen, die ein andrer hat, die einem selbst aber fehlen. Und dies soll bei
Lessing der Fall gewesen sein, weil ein andrer Erfolge hatte, die ihm selbst nicht
etwa fehlten, die ihn nur von seiner Stellung zu verdrängen im Begriff waren,
bei Lessing, den damals die Bühnenangelegenheiten längst aufgehört hatten zu
interessieren, ja dem sie nicht selten zum "äußersten Ekel gereichten"! Was uns
aber das Bedenklichste bei der ganzen Beweisführung zu sein scheint, ist dies,
daß der Verfasser von dem geistigen Gebiete auf das moralische hinübergreife,
daß er die Erklärung für eine Erscheinung, die ihm literarisch unverständlich
bleibt, dadurch begreiflich machen will, daß er einen Makel auf den Charakter
wirft, und obendrein bei einem Manne, dessen schönster Ruhm bisher gerade
die Lauterkeit des Charakters war, der diese Lauterkeit in den heftigsten Fehden
so bewährte, daß er sich auch gereizt zu keiner Ungerechtigkeit in der Beurthei¬
lung hinreißen ließ. Und das sollte nun am Ende seines Lebens doch einge¬
treten sein?

Uns dünkt, die literarische Erklärung von Lessings Verhalten dem aufstre¬
benden Genius gegenüber liege nicht so ferne; der Verfasser selbst hat daran
gestreift, wenn er darauf hinweist, daß Goethes "kecker Anlauf im ,Götz von
Berlichingen^, dem ganz Deutschland zujauchzte, die Zerfahrenheit und Regel¬
losigkeit eben überwundner roher Bühnenznstünde zurückzuführen und Lessings
Mühen zu nichte zu machen drohte." Allein, er hält diesen Grund nicht für
hinreichend, um "Lessings Zorn zu verstehen." Dies ist in der That um so
richtiger, als Goethe zunächst gar nicht an eine Aufführung auf der Bühne
dachte. Allein "Götz" und "Werther" drohten nach einer andern Richtung hin
"Lessings Mühen zu nichte zu machen", und daß ein Kämpfer wie Lessing sich
dagegen aufbäumte, war menschlich, war natürlich. Diese andere Richtung liegt
in der Gesammtauffassung der Aufgabe der Poesie. Nach Lessing hat die Poesie


(„Lessings persönliches und literarisches Verhältniß zu Klopstock") nachgewiesen,
scharf das wirklich dichterische von dem nur überschwenglichen und verschwom¬
menen unterschieden hat. Allein selbst wenn man die Behauptung von der
Unempfänglichkeit Lessings für dichterische Schönheiten zugeben wollte, was wir
nicht thu«, so behielte doch die Zurückführung des absprechender Urtheils Lessings
auf den Neid etwas sehr Bedenkliches. Neid entsteht entweder aus Erkenntniß
von Vorzügen, die ein anderer hat, die einem selbst aber abgehen. Hieraus
würde Lessings Neid nicht herrühren können, da ihm ja gerade die Fähigkeit,
dichterische Schönheiten zu erkennen, abgesprochen wird, und zwar, wie wir
hinzufügen wollen, trotz seines von dem Verfasser selbst angeführten ersten Ein¬
drucks von „Werthers Leiden", trotzdem daß der Verfasser selbst zugiebt', daß
Lessing, „vom ersten Eindruck der Dichtungen Goethes überwältigt, freudige
Theilnahme verrathen hat." Der Neid kann aber ferner durch äußere Erfolge
entstehen, die ein andrer hat, die einem selbst aber fehlen. Und dies soll bei
Lessing der Fall gewesen sein, weil ein andrer Erfolge hatte, die ihm selbst nicht
etwa fehlten, die ihn nur von seiner Stellung zu verdrängen im Begriff waren,
bei Lessing, den damals die Bühnenangelegenheiten längst aufgehört hatten zu
interessieren, ja dem sie nicht selten zum „äußersten Ekel gereichten"! Was uns
aber das Bedenklichste bei der ganzen Beweisführung zu sein scheint, ist dies,
daß der Verfasser von dem geistigen Gebiete auf das moralische hinübergreife,
daß er die Erklärung für eine Erscheinung, die ihm literarisch unverständlich
bleibt, dadurch begreiflich machen will, daß er einen Makel auf den Charakter
wirft, und obendrein bei einem Manne, dessen schönster Ruhm bisher gerade
die Lauterkeit des Charakters war, der diese Lauterkeit in den heftigsten Fehden
so bewährte, daß er sich auch gereizt zu keiner Ungerechtigkeit in der Beurthei¬
lung hinreißen ließ. Und das sollte nun am Ende seines Lebens doch einge¬
treten sein?

Uns dünkt, die literarische Erklärung von Lessings Verhalten dem aufstre¬
benden Genius gegenüber liege nicht so ferne; der Verfasser selbst hat daran
gestreift, wenn er darauf hinweist, daß Goethes „kecker Anlauf im ,Götz von
Berlichingen^, dem ganz Deutschland zujauchzte, die Zerfahrenheit und Regel¬
losigkeit eben überwundner roher Bühnenznstünde zurückzuführen und Lessings
Mühen zu nichte zu machen drohte." Allein, er hält diesen Grund nicht für
hinreichend, um „Lessings Zorn zu verstehen." Dies ist in der That um so
richtiger, als Goethe zunächst gar nicht an eine Aufführung auf der Bühne
dachte. Allein „Götz" und „Werther" drohten nach einer andern Richtung hin
„Lessings Mühen zu nichte zu machen", und daß ein Kämpfer wie Lessing sich
dagegen aufbäumte, war menschlich, war natürlich. Diese andere Richtung liegt
in der Gesammtauffassung der Aufgabe der Poesie. Nach Lessing hat die Poesie


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[0329] („Lessings persönliches und literarisches Verhältniß zu Klopstock") nachgewiesen, scharf das wirklich dichterische von dem nur überschwenglichen und verschwom¬ menen unterschieden hat. Allein selbst wenn man die Behauptung von der Unempfänglichkeit Lessings für dichterische Schönheiten zugeben wollte, was wir nicht thu«, so behielte doch die Zurückführung des absprechender Urtheils Lessings auf den Neid etwas sehr Bedenkliches. Neid entsteht entweder aus Erkenntniß von Vorzügen, die ein anderer hat, die einem selbst aber abgehen. Hieraus würde Lessings Neid nicht herrühren können, da ihm ja gerade die Fähigkeit, dichterische Schönheiten zu erkennen, abgesprochen wird, und zwar, wie wir hinzufügen wollen, trotz seines von dem Verfasser selbst angeführten ersten Ein¬ drucks von „Werthers Leiden", trotzdem daß der Verfasser selbst zugiebt', daß Lessing, „vom ersten Eindruck der Dichtungen Goethes überwältigt, freudige Theilnahme verrathen hat." Der Neid kann aber ferner durch äußere Erfolge entstehen, die ein andrer hat, die einem selbst aber fehlen. Und dies soll bei Lessing der Fall gewesen sein, weil ein andrer Erfolge hatte, die ihm selbst nicht etwa fehlten, die ihn nur von seiner Stellung zu verdrängen im Begriff waren, bei Lessing, den damals die Bühnenangelegenheiten längst aufgehört hatten zu interessieren, ja dem sie nicht selten zum „äußersten Ekel gereichten"! Was uns aber das Bedenklichste bei der ganzen Beweisführung zu sein scheint, ist dies, daß der Verfasser von dem geistigen Gebiete auf das moralische hinübergreife, daß er die Erklärung für eine Erscheinung, die ihm literarisch unverständlich bleibt, dadurch begreiflich machen will, daß er einen Makel auf den Charakter wirft, und obendrein bei einem Manne, dessen schönster Ruhm bisher gerade die Lauterkeit des Charakters war, der diese Lauterkeit in den heftigsten Fehden so bewährte, daß er sich auch gereizt zu keiner Ungerechtigkeit in der Beurthei¬ lung hinreißen ließ. Und das sollte nun am Ende seines Lebens doch einge¬ treten sein? Uns dünkt, die literarische Erklärung von Lessings Verhalten dem aufstre¬ benden Genius gegenüber liege nicht so ferne; der Verfasser selbst hat daran gestreift, wenn er darauf hinweist, daß Goethes „kecker Anlauf im ,Götz von Berlichingen^, dem ganz Deutschland zujauchzte, die Zerfahrenheit und Regel¬ losigkeit eben überwundner roher Bühnenznstünde zurückzuführen und Lessings Mühen zu nichte zu machen drohte." Allein, er hält diesen Grund nicht für hinreichend, um „Lessings Zorn zu verstehen." Dies ist in der That um so richtiger, als Goethe zunächst gar nicht an eine Aufführung auf der Bühne dachte. Allein „Götz" und „Werther" drohten nach einer andern Richtung hin „Lessings Mühen zu nichte zu machen", und daß ein Kämpfer wie Lessing sich dagegen aufbäumte, war menschlich, war natürlich. Diese andere Richtung liegt in der Gesammtauffassung der Aufgabe der Poesie. Nach Lessing hat die Poesie

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157695/329>, abgerufen am 28.12.2024.