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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Viertes Quartal.

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Verbrechen verwandelt. Es bedarf bei ihnen keiner Eide, keiner Befehle, um
einem flüchtigen Meuchelmörder zum Entkommen zu verhelfen. Eine Schaar
Tagelöhner arbeitet an der Landstraße, ein vollkommen fremder läuft vorbei
und ruft ihnen zu, die Köpfe niederzuhalten, sie thun es und hören die eiligen
Tritte eines Menschen, der an ihnen vorbeispringt. Einige Minuten nachher
folgt ihm die Polizei, und als diese sich nach dem Flüchtling erkundigt, bekommt
sie die Antwort, daß man niemand habe vorbeikommen sehen. Ein System,
das mit solchem Erfolge Mordthaten verschleiert, bedürfte kaum der Sanction
politischer Führer oder der Hilfe einer Gesellschaft, die unter dem Schutze der
Gesetze das Verbrechen praktisch begünstigt und ermuthigt. Zwischen der jetzigen
und der frühern politischen Lage giebt es also keine Parallele, und so könnte
man die Regierung recht wohl rechtfertigen, wenn sie außerordentliche Voll¬
machten verlangte, um mit einer Klasse von Verbrechern fertig zu werden, die
einen großen Theil der Bevölkerung zu stillschweigenden Mitschuldigen hat. Die
Processe, die jetzt mit dem Verfahren gegen Timothy Healy begonnen haben,
werden zeigen, wie weit die Anwendung der gewöhnlichen Gesetze hinreichen wird,
Gerechtigkeit walten zu lassen und wieder Ordnung im Lande zu schaffen. Hilft
das nicht, so wird man ohne Zweifel zu andern und schärfern Maßregeln ver-
fahrenen müssen."

Das ist ein durchaus verständiges Raisonnement. Aber -- und jetzt kom¬
men wir zur Betrachtung der andern Seite der Medaille -- während die irische
Executive die Obliegenheit hat, im Nothfalle außergewöhnliche Maßregeln zu
ergreifen, um einer außergewöhnlichen Demoralisation der Landbevölkerung in
Süd- und Westirland ein Ende zu machen, ist es in gleich hohem Grade ihr
Recht und ihre Pflicht, zu sorgen, daß in agrarischen Angelegenheiten Billigkeit
walte und ungerechte Ansprüche zur Unmöglichkeit werden. Man begegnet hier
in der englischen Presse bisweilen Behauptungen, die wohlbegründet und doch
ganz bedeutungslos sind. Man sagt uns, es gebe in Irland Tausende von
Gutsherren, welche ihre Pächter gut behandelten. Gewiß ist das der Fall, ge¬
rade so, wie die große Mehrzahl der amerikanischen Sklavenhalter gute Herren
waren. Aber das Uebel jedes gesetzlich geduldeten Systems, nach welchem Un¬
recht und Unbilligkeit geübt werden können, beruht auf denen, die sich der ge¬
gebenen Freiheit bedienen, und wenn es auch nur zehn Gutsherren gäbe, welche
ihr Besitzrecht mißbrauchten, um an ungeschützten Pächtern grobe Ungerechtigkeit
zu verüben, so müßte das Gesetz umgestaltet werden. Dies ist ein Verlangen,
welches mit dem eignen Interesse der wohlwollenden und billig denkenden Guts¬
herren zusammenfällt. Wenn man jetzt nicht auf die Repressiv" so bald wie
möglich die Reform folgen läßt, wird man immer von neuem zu jener seine
Zuflucht zu nehmen gezwungen sein. Zwangsmaßregeln ohne gründliche Besse-


Verbrechen verwandelt. Es bedarf bei ihnen keiner Eide, keiner Befehle, um
einem flüchtigen Meuchelmörder zum Entkommen zu verhelfen. Eine Schaar
Tagelöhner arbeitet an der Landstraße, ein vollkommen fremder läuft vorbei
und ruft ihnen zu, die Köpfe niederzuhalten, sie thun es und hören die eiligen
Tritte eines Menschen, der an ihnen vorbeispringt. Einige Minuten nachher
folgt ihm die Polizei, und als diese sich nach dem Flüchtling erkundigt, bekommt
sie die Antwort, daß man niemand habe vorbeikommen sehen. Ein System,
das mit solchem Erfolge Mordthaten verschleiert, bedürfte kaum der Sanction
politischer Führer oder der Hilfe einer Gesellschaft, die unter dem Schutze der
Gesetze das Verbrechen praktisch begünstigt und ermuthigt. Zwischen der jetzigen
und der frühern politischen Lage giebt es also keine Parallele, und so könnte
man die Regierung recht wohl rechtfertigen, wenn sie außerordentliche Voll¬
machten verlangte, um mit einer Klasse von Verbrechern fertig zu werden, die
einen großen Theil der Bevölkerung zu stillschweigenden Mitschuldigen hat. Die
Processe, die jetzt mit dem Verfahren gegen Timothy Healy begonnen haben,
werden zeigen, wie weit die Anwendung der gewöhnlichen Gesetze hinreichen wird,
Gerechtigkeit walten zu lassen und wieder Ordnung im Lande zu schaffen. Hilft
das nicht, so wird man ohne Zweifel zu andern und schärfern Maßregeln ver-
fahrenen müssen."

Das ist ein durchaus verständiges Raisonnement. Aber — und jetzt kom¬
men wir zur Betrachtung der andern Seite der Medaille — während die irische
Executive die Obliegenheit hat, im Nothfalle außergewöhnliche Maßregeln zu
ergreifen, um einer außergewöhnlichen Demoralisation der Landbevölkerung in
Süd- und Westirland ein Ende zu machen, ist es in gleich hohem Grade ihr
Recht und ihre Pflicht, zu sorgen, daß in agrarischen Angelegenheiten Billigkeit
walte und ungerechte Ansprüche zur Unmöglichkeit werden. Man begegnet hier
in der englischen Presse bisweilen Behauptungen, die wohlbegründet und doch
ganz bedeutungslos sind. Man sagt uns, es gebe in Irland Tausende von
Gutsherren, welche ihre Pächter gut behandelten. Gewiß ist das der Fall, ge¬
rade so, wie die große Mehrzahl der amerikanischen Sklavenhalter gute Herren
waren. Aber das Uebel jedes gesetzlich geduldeten Systems, nach welchem Un¬
recht und Unbilligkeit geübt werden können, beruht auf denen, die sich der ge¬
gebenen Freiheit bedienen, und wenn es auch nur zehn Gutsherren gäbe, welche
ihr Besitzrecht mißbrauchten, um an ungeschützten Pächtern grobe Ungerechtigkeit
zu verüben, so müßte das Gesetz umgestaltet werden. Dies ist ein Verlangen,
welches mit dem eignen Interesse der wohlwollenden und billig denkenden Guts¬
herren zusammenfällt. Wenn man jetzt nicht auf die Repressiv» so bald wie
möglich die Reform folgen läßt, wird man immer von neuem zu jener seine
Zuflucht zu nehmen gezwungen sein. Zwangsmaßregeln ohne gründliche Besse-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157695/296>, abgerufen am 01.01.2025.