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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Viertes Quartal.

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mit Kühen, ein Feld mit Heumachern, einen Sonntag zu Hause und verab¬
scheut den anrüchigen Modeartikel der ÜMg-se-Wss: ^.osttistios at doins.

Es ist eine sich oft wiederholende Erscheinung, daß die Effloreszens der
Kunst Hand in Hand geht mit einem Zerfall der Sitten. Die Zeit der italie¬
nischen Renaissance wär zugleich die der Borgias. Der Künstler kann sich das
gar nicht eindringlich genug vergegenwärtigen. Er sieht sich freilich genöthigt, dem
allgemeinen Geschmack zu folge", um sich auf dem Markte zu behaupten; aber er
sollte darin minder willig sein, womöglich den Verführer zu spielen. Eine Kunst,
die sich lediglich an die Sinne oder an die Sinnlichkeit wendet, ist nicht achtbar,
eine Kunst andrerseits, welche nur grollt oder Ascetik predigt, widerspricht ihrem
Zweck. Dazu kommt aber, daß beide Hand in Hand zu gehn pflegen. Wir
sehn einen Struys oder einen abscheulichen Liebermann neben einem Makart
Hunger, und beide sind womöglich gleich umlagert, weil beide ins Extrem
gerathen sind, beide den Bizarrerien des Publikums auf ihre Weise und je
nach Maßgabe ihrer Mittel huldigen. Beide sind "intensiv", wie die Engländer
diese divergierenden Richtungen nennen, welche sich von der harmonisch wir¬
kenden Kunstrichtung etwa unterscheiden, wie eine Hyperbel von der geraden
Linie. Es ist vergebens, einem fallenden Steine zuzurufen, er solle in seinem
Ruge innehalten. Der Geschmack des Publikums gleicht einem fallenden Steine,
der von äußern Kräften seine Impulse erhält. Umsomehr hat der gewissenhafte
Künstler, haben besonders die Leiter der Akademien sich zu fragen, wie weit
sie der Tagesrichtung nachgeben dürfen. Nicht minder aber geben solche Bi¬
zarrerien dem Staatsmanne zu rathen auf. Denn eine Entartung des Geschmacks
setzt immer auch eine in Zersetzung gerathene Gesellschaft, einen krankhaften
socialen Zustand voraus oder, wie der englische Philister sehr richtig sich aus¬
rückt, einen Mangel an gesundem Nationalgefühl. Wir wollen daran nicht
°le Folgerung knüpfen, daß es sich nun mit aller Gewalt darum handle, eine
nationale Kunst ins Leben zu rufen. Diese Forderung ist neuerdings oft laut
geworden. Aber man definiere einmal den Begriff, und man wird finden, daß
^ verschwommen ist, weil es dem Wesen der Kunst widerspricht, sich enge
Grenzen in Bezug auf ihre Vorwürfe ziehen zu lassen. Wir erblicken in dem
Bestreben, alte vorchristliche Mythen auszugraben und dichterisch, musikalisch oder
malerisch zu verkörpern, durchaus nicht das Wesen einer nationalen Kunst.
Schiller ist in seiner "Jungfrau von Orleans" immer noch nationaler als Hebbel
seinen "Nibelungen", obwohl jenes Drama sich auf dem Boden des soge¬
nannten Erbfeindes abspielt, während dieses sich mit germanischer Mythe be¬
schäftigt. Wir schließen uns vielmehr in unserm Verlangen durchaus dem prak¬
tischen Briten an, für den die Forderung eines gesunden Nationalgefühls von


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mit Kühen, ein Feld mit Heumachern, einen Sonntag zu Hause und verab¬
scheut den anrüchigen Modeartikel der ÜMg-se-Wss: ^.osttistios at doins.

Es ist eine sich oft wiederholende Erscheinung, daß die Effloreszens der
Kunst Hand in Hand geht mit einem Zerfall der Sitten. Die Zeit der italie¬
nischen Renaissance wär zugleich die der Borgias. Der Künstler kann sich das
gar nicht eindringlich genug vergegenwärtigen. Er sieht sich freilich genöthigt, dem
allgemeinen Geschmack zu folge«, um sich auf dem Markte zu behaupten; aber er
sollte darin minder willig sein, womöglich den Verführer zu spielen. Eine Kunst,
die sich lediglich an die Sinne oder an die Sinnlichkeit wendet, ist nicht achtbar,
eine Kunst andrerseits, welche nur grollt oder Ascetik predigt, widerspricht ihrem
Zweck. Dazu kommt aber, daß beide Hand in Hand zu gehn pflegen. Wir
sehn einen Struys oder einen abscheulichen Liebermann neben einem Makart
Hunger, und beide sind womöglich gleich umlagert, weil beide ins Extrem
gerathen sind, beide den Bizarrerien des Publikums auf ihre Weise und je
nach Maßgabe ihrer Mittel huldigen. Beide sind „intensiv", wie die Engländer
diese divergierenden Richtungen nennen, welche sich von der harmonisch wir¬
kenden Kunstrichtung etwa unterscheiden, wie eine Hyperbel von der geraden
Linie. Es ist vergebens, einem fallenden Steine zuzurufen, er solle in seinem
Ruge innehalten. Der Geschmack des Publikums gleicht einem fallenden Steine,
der von äußern Kräften seine Impulse erhält. Umsomehr hat der gewissenhafte
Künstler, haben besonders die Leiter der Akademien sich zu fragen, wie weit
sie der Tagesrichtung nachgeben dürfen. Nicht minder aber geben solche Bi¬
zarrerien dem Staatsmanne zu rathen auf. Denn eine Entartung des Geschmacks
setzt immer auch eine in Zersetzung gerathene Gesellschaft, einen krankhaften
socialen Zustand voraus oder, wie der englische Philister sehr richtig sich aus¬
rückt, einen Mangel an gesundem Nationalgefühl. Wir wollen daran nicht
°le Folgerung knüpfen, daß es sich nun mit aller Gewalt darum handle, eine
nationale Kunst ins Leben zu rufen. Diese Forderung ist neuerdings oft laut
geworden. Aber man definiere einmal den Begriff, und man wird finden, daß
^ verschwommen ist, weil es dem Wesen der Kunst widerspricht, sich enge
Grenzen in Bezug auf ihre Vorwürfe ziehen zu lassen. Wir erblicken in dem
Bestreben, alte vorchristliche Mythen auszugraben und dichterisch, musikalisch oder
malerisch zu verkörpern, durchaus nicht das Wesen einer nationalen Kunst.
Schiller ist in seiner „Jungfrau von Orleans" immer noch nationaler als Hebbel
seinen „Nibelungen", obwohl jenes Drama sich auf dem Boden des soge¬
nannten Erbfeindes abspielt, während dieses sich mit germanischer Mythe be¬
schäftigt. Wir schließen uns vielmehr in unserm Verlangen durchaus dem prak¬
tischen Briten an, für den die Forderung eines gesunden Nationalgefühls von


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[0287] ana V0IQN10Q man malt wieder heimatliche Scenen, einen Landweg mit Kühen, ein Feld mit Heumachern, einen Sonntag zu Hause und verab¬ scheut den anrüchigen Modeartikel der ÜMg-se-Wss: ^.osttistios at doins. Es ist eine sich oft wiederholende Erscheinung, daß die Effloreszens der Kunst Hand in Hand geht mit einem Zerfall der Sitten. Die Zeit der italie¬ nischen Renaissance wär zugleich die der Borgias. Der Künstler kann sich das gar nicht eindringlich genug vergegenwärtigen. Er sieht sich freilich genöthigt, dem allgemeinen Geschmack zu folge«, um sich auf dem Markte zu behaupten; aber er sollte darin minder willig sein, womöglich den Verführer zu spielen. Eine Kunst, die sich lediglich an die Sinne oder an die Sinnlichkeit wendet, ist nicht achtbar, eine Kunst andrerseits, welche nur grollt oder Ascetik predigt, widerspricht ihrem Zweck. Dazu kommt aber, daß beide Hand in Hand zu gehn pflegen. Wir sehn einen Struys oder einen abscheulichen Liebermann neben einem Makart Hunger, und beide sind womöglich gleich umlagert, weil beide ins Extrem gerathen sind, beide den Bizarrerien des Publikums auf ihre Weise und je nach Maßgabe ihrer Mittel huldigen. Beide sind „intensiv", wie die Engländer diese divergierenden Richtungen nennen, welche sich von der harmonisch wir¬ kenden Kunstrichtung etwa unterscheiden, wie eine Hyperbel von der geraden Linie. Es ist vergebens, einem fallenden Steine zuzurufen, er solle in seinem Ruge innehalten. Der Geschmack des Publikums gleicht einem fallenden Steine, der von äußern Kräften seine Impulse erhält. Umsomehr hat der gewissenhafte Künstler, haben besonders die Leiter der Akademien sich zu fragen, wie weit sie der Tagesrichtung nachgeben dürfen. Nicht minder aber geben solche Bi¬ zarrerien dem Staatsmanne zu rathen auf. Denn eine Entartung des Geschmacks setzt immer auch eine in Zersetzung gerathene Gesellschaft, einen krankhaften socialen Zustand voraus oder, wie der englische Philister sehr richtig sich aus¬ rückt, einen Mangel an gesundem Nationalgefühl. Wir wollen daran nicht °le Folgerung knüpfen, daß es sich nun mit aller Gewalt darum handle, eine nationale Kunst ins Leben zu rufen. Diese Forderung ist neuerdings oft laut geworden. Aber man definiere einmal den Begriff, und man wird finden, daß ^ verschwommen ist, weil es dem Wesen der Kunst widerspricht, sich enge Grenzen in Bezug auf ihre Vorwürfe ziehen zu lassen. Wir erblicken in dem Bestreben, alte vorchristliche Mythen auszugraben und dichterisch, musikalisch oder malerisch zu verkörpern, durchaus nicht das Wesen einer nationalen Kunst. Schiller ist in seiner „Jungfrau von Orleans" immer noch nationaler als Hebbel seinen „Nibelungen", obwohl jenes Drama sich auf dem Boden des soge¬ nannten Erbfeindes abspielt, während dieses sich mit germanischer Mythe be¬ schäftigt. Wir schließen uns vielmehr in unserm Verlangen durchaus dem prak¬ tischen Briten an, für den die Forderung eines gesunden Nationalgefühls von

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157695/287>, abgerufen am 28.12.2024.