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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Viertes Quartal.

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bete an, welches eigentlich niemals aufhört. Kann die Mutter diese Sorge nicht
übernehmen, so kommt ein zerlumptes Jüdlein daher und bietet sich an, den
Knaben zu unterrichten. Bessern Falles wird der Knabe zu einem "officiellen"
Privatlehrer geschickt. Dieser Mann hat bei irgend einem Rabbi eine Art
Examen in der hebräischen Sprache, in einigen Talmudlehren und den Ge¬
setzen abgelegt und dann eine officielle Bescheinigung erhalten, daß er lehren
dürfe. Beim "Melamed" oder Lehrer beginnt wiederum das Lesen der heiligen
Schriften, Auswendiglernen, Beten; und hiermit endet auch der Unterricht. Außer
den vier Rechenspecies ist der gesammte Lehrstoff dieser Lehrer im Talmud be¬
schlossen. Und das ist die ganze Erziehung und Unterricht, dessen sich vielleicht
95 Procent aller Judenkinder, soweit sie überhaupt etwas lernen, erfreuen. Und
die weitaus meisten lernen etwas. Unter dem Ministerium Uwarow versuchte
Rußland auf den jüdischen Unterricht ein wenig Einfluß zu gewinnen. Es
wurde ein Zeugniß der Befähigung von dem Melamed verlangt, das ihm eventuell
auch wieder entzogen werden konnte, es wurde Kenntniß der russischen Sprache
gefordert. Eine Zeit lang, nach der polnischen letzten Erhebung, drohte den
Juden die Gefahr, daß die Regierung auch dieses letzte dürftige Werkzeug des
Unterrichts, das Institut des Melamed aufhöbe und untersagte, damit die Juden¬
kinder in die russischen Schulen träten, welche indessen nicht vorhanden waren.
Ein Gesetz von 1855, das 1875 erneuert ward, verordnete, daß der Melamed
in einer höhern oder mittlern russischen Lehranstalt erzogen sein solle. Dadurch
wäre das Institut der "Melamdim" vernichtet worden. Denn wer eine jener Lehr¬
anstalten besucht hatte, hätte sich nicht mehr zum Melamed hergegeben, war auch
meist als Abtrünniger von der Orthodoxie dazu nicht mehr geeignet. In dieser
Gefahr setzten die Juden es durch, daß jener Mas bis 1878 suspendiert wurde,
und hierbei ist es geblieben. Jetzt hat die Regierung jüdische Volksschulen er¬
richtet. Sie sind sehr spärlich in einigen größern Städten verstreut; ihr Haupt¬
augenmerk ist darauf gerichtet, die Kinder in der russischen Sprache zu unter¬
weisen. Aber bereits hat sich überall das Judenthum gegen diese Schulen mit
dem Vorwurf erhoben, daß dort die Hauptsache, das Talmudstudium, Gesetze
und Gebete vernachlässigt werden, und diese Schulen, an sich nur einer geringen
Anzahl von Kindern zugänglich, verlieren das Vertrauen des Volkes und gehen
zurück. Ebendasselbe hat die Regierung erfahren mit den Rabbinerschulen, deren
Ac ein paar eröffnete. Gar bald überzeugten sich die Juden, daß in diesen
Schulen Propaganda für das Rnssenthum getrieben werde, die künftigen Rab¬
biner aber sehr geringes talmndisches Wissen von dorther mitbrächten. Die
Folge war, daß die Regierung diese Schulen zum Theil, wie z. B. die zu Wilna,
wieder schließen mußte. Und darauf ist der ganze Lehrapparat für diese 2^
Millionen beschränkt: talmudistischer Melamed und einige russische Schulen,


Grenzboten IV. 1880. 36

bete an, welches eigentlich niemals aufhört. Kann die Mutter diese Sorge nicht
übernehmen, so kommt ein zerlumptes Jüdlein daher und bietet sich an, den
Knaben zu unterrichten. Bessern Falles wird der Knabe zu einem „officiellen"
Privatlehrer geschickt. Dieser Mann hat bei irgend einem Rabbi eine Art
Examen in der hebräischen Sprache, in einigen Talmudlehren und den Ge¬
setzen abgelegt und dann eine officielle Bescheinigung erhalten, daß er lehren
dürfe. Beim „Melamed" oder Lehrer beginnt wiederum das Lesen der heiligen
Schriften, Auswendiglernen, Beten; und hiermit endet auch der Unterricht. Außer
den vier Rechenspecies ist der gesammte Lehrstoff dieser Lehrer im Talmud be¬
schlossen. Und das ist die ganze Erziehung und Unterricht, dessen sich vielleicht
95 Procent aller Judenkinder, soweit sie überhaupt etwas lernen, erfreuen. Und
die weitaus meisten lernen etwas. Unter dem Ministerium Uwarow versuchte
Rußland auf den jüdischen Unterricht ein wenig Einfluß zu gewinnen. Es
wurde ein Zeugniß der Befähigung von dem Melamed verlangt, das ihm eventuell
auch wieder entzogen werden konnte, es wurde Kenntniß der russischen Sprache
gefordert. Eine Zeit lang, nach der polnischen letzten Erhebung, drohte den
Juden die Gefahr, daß die Regierung auch dieses letzte dürftige Werkzeug des
Unterrichts, das Institut des Melamed aufhöbe und untersagte, damit die Juden¬
kinder in die russischen Schulen träten, welche indessen nicht vorhanden waren.
Ein Gesetz von 1855, das 1875 erneuert ward, verordnete, daß der Melamed
in einer höhern oder mittlern russischen Lehranstalt erzogen sein solle. Dadurch
wäre das Institut der „Melamdim" vernichtet worden. Denn wer eine jener Lehr¬
anstalten besucht hatte, hätte sich nicht mehr zum Melamed hergegeben, war auch
meist als Abtrünniger von der Orthodoxie dazu nicht mehr geeignet. In dieser
Gefahr setzten die Juden es durch, daß jener Mas bis 1878 suspendiert wurde,
und hierbei ist es geblieben. Jetzt hat die Regierung jüdische Volksschulen er¬
richtet. Sie sind sehr spärlich in einigen größern Städten verstreut; ihr Haupt¬
augenmerk ist darauf gerichtet, die Kinder in der russischen Sprache zu unter¬
weisen. Aber bereits hat sich überall das Judenthum gegen diese Schulen mit
dem Vorwurf erhoben, daß dort die Hauptsache, das Talmudstudium, Gesetze
und Gebete vernachlässigt werden, und diese Schulen, an sich nur einer geringen
Anzahl von Kindern zugänglich, verlieren das Vertrauen des Volkes und gehen
zurück. Ebendasselbe hat die Regierung erfahren mit den Rabbinerschulen, deren
Ac ein paar eröffnete. Gar bald überzeugten sich die Juden, daß in diesen
Schulen Propaganda für das Rnssenthum getrieben werde, die künftigen Rab¬
biner aber sehr geringes talmndisches Wissen von dorther mitbrächten. Die
Folge war, daß die Regierung diese Schulen zum Theil, wie z. B. die zu Wilna,
wieder schließen mußte. Und darauf ist der ganze Lehrapparat für diese 2^
Millionen beschränkt: talmudistischer Melamed und einige russische Schulen,


Grenzboten IV. 1880. 36
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157695/269>, abgerufen am 28.12.2024.