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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Viertes Quartal.

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Denn bis heute besteht die sogenannte Wissenschaft des Judenthums in talmu-
distischen Grübeleien. Unter unsern zeitgenössischen Weisen des Judenthums hat
Salomo Napoport sich hervorgethan durch eine talmudische Realencyklopädie und
Leopold Zunz durch ein Werk, welchem die Juden den ersten Platz in der neuern
jüdischen Wissenschaft einräumen und welches zum Inhalt hat "die geschichtliche
Entwicklung der gottesdienstlichen Vorträge der Juden." Solcher Art ist der
Geist, welcher das Judenthum seit Jahrtausenden erfüllt hat und es noch heute
mit einer Kraft durchdringt, die keinen andern geistigen Strömungen einen Ein¬
fluß gestattet.

Zwischen dem Talmud und der modernen Cultur ist keine Versöhnung
möglich. Wer in Bibel und Talmud nicht bloß religiöse Wahrheiten, sondern
eine Encyklopädie aller Wissenschaften sucht, hat mit unserer Cultur nichts zu
schaffen. Der strenge Glaube an die Lehren des Talmud schließt die Wissen¬
schaft unserer Zeit aus. Einst erzählte mir ein Rabbiner von der Ueberliefe¬
rung, nach welcher auf dem Schiffe des Columbus beobachtet wurde, daß der
alte Mond eines Morgens sichtbar war, während am Abend desselben Tages
der Neumond am Himmel erschien. Im Talmud aber steht geschrieben, daß
von Altlicht bis Neulicht vierundzwanzig Stunden vergehen. Man forschte und
forschte, bis ein Weiser herausfand, daß der Talmud allerdings jene Erschei¬
nung als eine unregelmäßige festgestellt habe. Seitdem glaubte man an die
Erscheinung. Und dieser Mann, ein Lehrer und Schriftgelehrter, nannte das
Astronomie und war tief überzeugt von der Höhe talmudischer Astronomie, ver¬
dammte alles, was den astronomischen, mathematischen, geschichtlichen oder andern
Meinungen der Talmudisten etwa in der nichtjüdischer Wissenschaft widersprach,
als Irrlehre und wissenschaftliche Unwahrheit. Man mag sagen, er sei ein un¬
gebildeter Mann gewesen. Allein ich erwiedere, daß er auf der Höhe jüdischer
Bildung stand, und daß jeder, der rechtgläubiger Jude ist, genau so denken muß
wie jener Rabbi. Denn der Geist des Judenthums sprach aus ihm.

In ihrer großen Mehrzahl arm an Gütern, pflegen die polnischen Juden
nach der Väter Lehre eine zahlreiche Kinderschaar für einen Segen Gottes zu
halten. Der ärmste Schlucker hält fest an dem Glauben, daß Gott jedem Ehe¬
paare vorsorglich seine Tracht Kinder zuweise und daher auch die Verpflichtung
trage, sür sie weltlich zu sorgen. Er ist also Gott für jeden Familienzuwachs
dankbar und sorgt uicht um das Fortkommen seiner Sprößlinge. Das erste,
was dieselben lernen, sind die Gebete im Elternhause. Mit aller Strenge werden
sie geübt, meist inmitten der talmudisch vorgeschriebenen Anzahl von wenigstens
zehn Personen, in hebräischer Sprache. Später unterrichtet die Mutter, falls
sie selbst es versteht und die Zeit hat, den Knaben im hebräischen Lesen. Kaum
hat er das hinter sich, so hebt das Auswendiglernen der Gesetze, Lehren, Ge-


Denn bis heute besteht die sogenannte Wissenschaft des Judenthums in talmu-
distischen Grübeleien. Unter unsern zeitgenössischen Weisen des Judenthums hat
Salomo Napoport sich hervorgethan durch eine talmudische Realencyklopädie und
Leopold Zunz durch ein Werk, welchem die Juden den ersten Platz in der neuern
jüdischen Wissenschaft einräumen und welches zum Inhalt hat „die geschichtliche
Entwicklung der gottesdienstlichen Vorträge der Juden." Solcher Art ist der
Geist, welcher das Judenthum seit Jahrtausenden erfüllt hat und es noch heute
mit einer Kraft durchdringt, die keinen andern geistigen Strömungen einen Ein¬
fluß gestattet.

Zwischen dem Talmud und der modernen Cultur ist keine Versöhnung
möglich. Wer in Bibel und Talmud nicht bloß religiöse Wahrheiten, sondern
eine Encyklopädie aller Wissenschaften sucht, hat mit unserer Cultur nichts zu
schaffen. Der strenge Glaube an die Lehren des Talmud schließt die Wissen¬
schaft unserer Zeit aus. Einst erzählte mir ein Rabbiner von der Ueberliefe¬
rung, nach welcher auf dem Schiffe des Columbus beobachtet wurde, daß der
alte Mond eines Morgens sichtbar war, während am Abend desselben Tages
der Neumond am Himmel erschien. Im Talmud aber steht geschrieben, daß
von Altlicht bis Neulicht vierundzwanzig Stunden vergehen. Man forschte und
forschte, bis ein Weiser herausfand, daß der Talmud allerdings jene Erschei¬
nung als eine unregelmäßige festgestellt habe. Seitdem glaubte man an die
Erscheinung. Und dieser Mann, ein Lehrer und Schriftgelehrter, nannte das
Astronomie und war tief überzeugt von der Höhe talmudischer Astronomie, ver¬
dammte alles, was den astronomischen, mathematischen, geschichtlichen oder andern
Meinungen der Talmudisten etwa in der nichtjüdischer Wissenschaft widersprach,
als Irrlehre und wissenschaftliche Unwahrheit. Man mag sagen, er sei ein un¬
gebildeter Mann gewesen. Allein ich erwiedere, daß er auf der Höhe jüdischer
Bildung stand, und daß jeder, der rechtgläubiger Jude ist, genau so denken muß
wie jener Rabbi. Denn der Geist des Judenthums sprach aus ihm.

In ihrer großen Mehrzahl arm an Gütern, pflegen die polnischen Juden
nach der Väter Lehre eine zahlreiche Kinderschaar für einen Segen Gottes zu
halten. Der ärmste Schlucker hält fest an dem Glauben, daß Gott jedem Ehe¬
paare vorsorglich seine Tracht Kinder zuweise und daher auch die Verpflichtung
trage, sür sie weltlich zu sorgen. Er ist also Gott für jeden Familienzuwachs
dankbar und sorgt uicht um das Fortkommen seiner Sprößlinge. Das erste,
was dieselben lernen, sind die Gebete im Elternhause. Mit aller Strenge werden
sie geübt, meist inmitten der talmudisch vorgeschriebenen Anzahl von wenigstens
zehn Personen, in hebräischer Sprache. Später unterrichtet die Mutter, falls
sie selbst es versteht und die Zeit hat, den Knaben im hebräischen Lesen. Kaum
hat er das hinter sich, so hebt das Auswendiglernen der Gesetze, Lehren, Ge-


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[0268] Denn bis heute besteht die sogenannte Wissenschaft des Judenthums in talmu- distischen Grübeleien. Unter unsern zeitgenössischen Weisen des Judenthums hat Salomo Napoport sich hervorgethan durch eine talmudische Realencyklopädie und Leopold Zunz durch ein Werk, welchem die Juden den ersten Platz in der neuern jüdischen Wissenschaft einräumen und welches zum Inhalt hat „die geschichtliche Entwicklung der gottesdienstlichen Vorträge der Juden." Solcher Art ist der Geist, welcher das Judenthum seit Jahrtausenden erfüllt hat und es noch heute mit einer Kraft durchdringt, die keinen andern geistigen Strömungen einen Ein¬ fluß gestattet. Zwischen dem Talmud und der modernen Cultur ist keine Versöhnung möglich. Wer in Bibel und Talmud nicht bloß religiöse Wahrheiten, sondern eine Encyklopädie aller Wissenschaften sucht, hat mit unserer Cultur nichts zu schaffen. Der strenge Glaube an die Lehren des Talmud schließt die Wissen¬ schaft unserer Zeit aus. Einst erzählte mir ein Rabbiner von der Ueberliefe¬ rung, nach welcher auf dem Schiffe des Columbus beobachtet wurde, daß der alte Mond eines Morgens sichtbar war, während am Abend desselben Tages der Neumond am Himmel erschien. Im Talmud aber steht geschrieben, daß von Altlicht bis Neulicht vierundzwanzig Stunden vergehen. Man forschte und forschte, bis ein Weiser herausfand, daß der Talmud allerdings jene Erschei¬ nung als eine unregelmäßige festgestellt habe. Seitdem glaubte man an die Erscheinung. Und dieser Mann, ein Lehrer und Schriftgelehrter, nannte das Astronomie und war tief überzeugt von der Höhe talmudischer Astronomie, ver¬ dammte alles, was den astronomischen, mathematischen, geschichtlichen oder andern Meinungen der Talmudisten etwa in der nichtjüdischer Wissenschaft widersprach, als Irrlehre und wissenschaftliche Unwahrheit. Man mag sagen, er sei ein un¬ gebildeter Mann gewesen. Allein ich erwiedere, daß er auf der Höhe jüdischer Bildung stand, und daß jeder, der rechtgläubiger Jude ist, genau so denken muß wie jener Rabbi. Denn der Geist des Judenthums sprach aus ihm. In ihrer großen Mehrzahl arm an Gütern, pflegen die polnischen Juden nach der Väter Lehre eine zahlreiche Kinderschaar für einen Segen Gottes zu halten. Der ärmste Schlucker hält fest an dem Glauben, daß Gott jedem Ehe¬ paare vorsorglich seine Tracht Kinder zuweise und daher auch die Verpflichtung trage, sür sie weltlich zu sorgen. Er ist also Gott für jeden Familienzuwachs dankbar und sorgt uicht um das Fortkommen seiner Sprößlinge. Das erste, was dieselben lernen, sind die Gebete im Elternhause. Mit aller Strenge werden sie geübt, meist inmitten der talmudisch vorgeschriebenen Anzahl von wenigstens zehn Personen, in hebräischer Sprache. Später unterrichtet die Mutter, falls sie selbst es versteht und die Zeit hat, den Knaben im hebräischen Lesen. Kaum hat er das hinter sich, so hebt das Auswendiglernen der Gesetze, Lehren, Ge-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157695/268>, abgerufen am 28.12.2024.