Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Viertes Quartal.

Bild:
<< vorherige Seite

"Schützemncchlzeit" im Rathhause erschien mir trockner, als sie mir in der Er¬
innerung stand; und das ist natürlich, weil ich damals die Haarlemer "Schützen¬
stücke" noch nicht gesehen hatte, als ich in Delft war. Zum ersten Male aber
sah ich die vier Anatomiebilder im Gasthuis, von denen die Miereveltsche als
Vorgängerin der Rembrandtschen von ganz besonderm Interesse ist, übrigens
auch zu den am besten arrangierten und am freiesten gemalten Bildern des
Deister Altmeisters gehört.

Den 6. September 1878. Die Studien im königlichen Museum, im Ge-
meindemuseum, im niederländischen Museum, im Museum Meermanno-Westree-
nianum, im Hülf ten Bosch und in der Bibliothek hatte ich heute Nachmittag
beendet, soweit sie in meinem diesjährigen Plane lagen; überall war ich freund¬
lich aufgenommen und von den Herren Directoren mit Rath und That unter¬
stützt worden. Auch des Baron Steengrachts treffliche Privatgalerie hatte ich
wiedergesehen. Jetzt zog es uns mächtig hinaus durchs Holz an die See; und
wir verlebten einen unvergeßlichen Abend in Scheveningen. Die Dünen haben
ner einen melancholisch großartigen Charakter, von dem die belgischen Dünen
bei Ostende, Blankenberghe und Heyse keinen Begriff geben. Die Reihe ist breiter.
Die Höhen sind höher. Die Thäler sind tiefer. Man kann sich in die meilen¬
weite Einöde vergraben, man kann sich in ihr verirren; und das alles in nächster
Nähe der großen Hauptstadt des Reiches!

Im Angesichte des Meeres legten wir uns in die Dünen. Ich las Tenny-
Wns "Enoch Arten" vor. Das hohe Dünengras nickte zu unsern Häuptern.
Unsere Blicke schweiften vom Buche wiederholt aufs Meer. Am Horizonte stand
wie Nebelbank. Als die niedersinkende Sonne dieselbe erreicht, verwandelte sie
steh in eine blutrothe Scheibe und warf einen festbegrenzten breiten Purpur-
streiftn durchs ganze Meer bis zu den leicht am Strande brandenden Wellen.
Am Horizonte ward es allmählich dunkel, nur vorn am Strande, wo die leichten
Kräuselwellen anplätscherten, spiegelten die Lichter des Himmels sich wieder:
rothgolden an einer Stelle, wo jener Purpurstreif noch immer in den Fluthen
"achglänzte; weich-silbern dicht daneben; merkwürdig zart und fein; eine Fülle
klarer, wunderbar feiner Farbenpoesie. Ja! weder die alten noch die neuen
Blöker haben das volle innere Leben der Luft über dem Meere und des Glanz¬
spiels in den Wellen darzustellen vermocht. Die Natur ist hier, auch von ihrem
raschwechselnden Schillern und Glitzern abgesehen, unendlich viel geistreicher,
lebendiger und tiefer, als Pinsel und Farbe es bis jetzt jemals wiedergegeben
haben. Ich fgh hxM Abend Augenblicke, die, weit entfernt von phänomenaler
^ffecthascherei, den Künstler, der sie zu fesseln vermöchte, unsterblich machen
würden. Einige Strandbilder von Eng. Ducker kommen der Natur in allen


„Schützemncchlzeit" im Rathhause erschien mir trockner, als sie mir in der Er¬
innerung stand; und das ist natürlich, weil ich damals die Haarlemer „Schützen¬
stücke" noch nicht gesehen hatte, als ich in Delft war. Zum ersten Male aber
sah ich die vier Anatomiebilder im Gasthuis, von denen die Miereveltsche als
Vorgängerin der Rembrandtschen von ganz besonderm Interesse ist, übrigens
auch zu den am besten arrangierten und am freiesten gemalten Bildern des
Deister Altmeisters gehört.

Den 6. September 1878. Die Studien im königlichen Museum, im Ge-
meindemuseum, im niederländischen Museum, im Museum Meermanno-Westree-
nianum, im Hülf ten Bosch und in der Bibliothek hatte ich heute Nachmittag
beendet, soweit sie in meinem diesjährigen Plane lagen; überall war ich freund¬
lich aufgenommen und von den Herren Directoren mit Rath und That unter¬
stützt worden. Auch des Baron Steengrachts treffliche Privatgalerie hatte ich
wiedergesehen. Jetzt zog es uns mächtig hinaus durchs Holz an die See; und
wir verlebten einen unvergeßlichen Abend in Scheveningen. Die Dünen haben
ner einen melancholisch großartigen Charakter, von dem die belgischen Dünen
bei Ostende, Blankenberghe und Heyse keinen Begriff geben. Die Reihe ist breiter.
Die Höhen sind höher. Die Thäler sind tiefer. Man kann sich in die meilen¬
weite Einöde vergraben, man kann sich in ihr verirren; und das alles in nächster
Nähe der großen Hauptstadt des Reiches!

Im Angesichte des Meeres legten wir uns in die Dünen. Ich las Tenny-
Wns „Enoch Arten" vor. Das hohe Dünengras nickte zu unsern Häuptern.
Unsere Blicke schweiften vom Buche wiederholt aufs Meer. Am Horizonte stand
wie Nebelbank. Als die niedersinkende Sonne dieselbe erreicht, verwandelte sie
steh in eine blutrothe Scheibe und warf einen festbegrenzten breiten Purpur-
streiftn durchs ganze Meer bis zu den leicht am Strande brandenden Wellen.
Am Horizonte ward es allmählich dunkel, nur vorn am Strande, wo die leichten
Kräuselwellen anplätscherten, spiegelten die Lichter des Himmels sich wieder:
rothgolden an einer Stelle, wo jener Purpurstreif noch immer in den Fluthen
"achglänzte; weich-silbern dicht daneben; merkwürdig zart und fein; eine Fülle
klarer, wunderbar feiner Farbenpoesie. Ja! weder die alten noch die neuen
Blöker haben das volle innere Leben der Luft über dem Meere und des Glanz¬
spiels in den Wellen darzustellen vermocht. Die Natur ist hier, auch von ihrem
raschwechselnden Schillern und Glitzern abgesehen, unendlich viel geistreicher,
lebendiger und tiefer, als Pinsel und Farbe es bis jetzt jemals wiedergegeben
haben. Ich fgh hxM Abend Augenblicke, die, weit entfernt von phänomenaler
^ffecthascherei, den Künstler, der sie zu fesseln vermöchte, unsterblich machen
würden. Einige Strandbilder von Eng. Ducker kommen der Natur in allen


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0235" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/147882"/>
          <p xml:id="ID_642" prev="#ID_641"> &#x201E;Schützemncchlzeit" im Rathhause erschien mir trockner, als sie mir in der Er¬<lb/>
innerung stand; und das ist natürlich, weil ich damals die Haarlemer &#x201E;Schützen¬<lb/>
stücke" noch nicht gesehen hatte, als ich in Delft war. Zum ersten Male aber<lb/>
sah ich die vier Anatomiebilder im Gasthuis, von denen die Miereveltsche als<lb/>
Vorgängerin der Rembrandtschen von ganz besonderm Interesse ist, übrigens<lb/>
auch zu den am besten arrangierten und am freiesten gemalten Bildern des<lb/>
Deister Altmeisters gehört.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_643"> Den 6. September 1878. Die Studien im königlichen Museum, im Ge-<lb/>
meindemuseum, im niederländischen Museum, im Museum Meermanno-Westree-<lb/>
nianum, im Hülf ten Bosch und in der Bibliothek hatte ich heute Nachmittag<lb/>
beendet, soweit sie in meinem diesjährigen Plane lagen; überall war ich freund¬<lb/>
lich aufgenommen und von den Herren Directoren mit Rath und That unter¬<lb/>
stützt worden. Auch des Baron Steengrachts treffliche Privatgalerie hatte ich<lb/>
wiedergesehen. Jetzt zog es uns mächtig hinaus durchs Holz an die See; und<lb/>
wir verlebten einen unvergeßlichen Abend in Scheveningen. Die Dünen haben<lb/>
ner einen melancholisch großartigen Charakter, von dem die belgischen Dünen<lb/>
bei Ostende, Blankenberghe und Heyse keinen Begriff geben. Die Reihe ist breiter.<lb/>
Die Höhen sind höher. Die Thäler sind tiefer. Man kann sich in die meilen¬<lb/>
weite Einöde vergraben, man kann sich in ihr verirren; und das alles in nächster<lb/>
Nähe der großen Hauptstadt des Reiches!</p><lb/>
          <p xml:id="ID_644" next="#ID_645"> Im Angesichte des Meeres legten wir uns in die Dünen. Ich las Tenny-<lb/>
Wns &#x201E;Enoch Arten" vor. Das hohe Dünengras nickte zu unsern Häuptern.<lb/>
Unsere Blicke schweiften vom Buche wiederholt aufs Meer. Am Horizonte stand<lb/>
wie Nebelbank. Als die niedersinkende Sonne dieselbe erreicht, verwandelte sie<lb/>
steh in eine blutrothe Scheibe und warf einen festbegrenzten breiten Purpur-<lb/>
streiftn durchs ganze Meer bis zu den leicht am Strande brandenden Wellen.<lb/>
Am Horizonte ward es allmählich dunkel, nur vorn am Strande, wo die leichten<lb/>
Kräuselwellen anplätscherten, spiegelten die Lichter des Himmels sich wieder:<lb/>
rothgolden an einer Stelle, wo jener Purpurstreif noch immer in den Fluthen<lb/>
"achglänzte; weich-silbern dicht daneben; merkwürdig zart und fein; eine Fülle<lb/>
klarer, wunderbar feiner Farbenpoesie. Ja! weder die alten noch die neuen<lb/>
Blöker haben das volle innere Leben der Luft über dem Meere und des Glanz¬<lb/>
spiels in den Wellen darzustellen vermocht. Die Natur ist hier, auch von ihrem<lb/>
raschwechselnden Schillern und Glitzern abgesehen, unendlich viel geistreicher,<lb/>
lebendiger und tiefer, als Pinsel und Farbe es bis jetzt jemals wiedergegeben<lb/>
haben. Ich fgh hxM Abend Augenblicke, die, weit entfernt von phänomenaler<lb/>
^ffecthascherei, den Künstler, der sie zu fesseln vermöchte, unsterblich machen<lb/>
würden. Einige Strandbilder von Eng. Ducker kommen der Natur in allen</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0235] „Schützemncchlzeit" im Rathhause erschien mir trockner, als sie mir in der Er¬ innerung stand; und das ist natürlich, weil ich damals die Haarlemer „Schützen¬ stücke" noch nicht gesehen hatte, als ich in Delft war. Zum ersten Male aber sah ich die vier Anatomiebilder im Gasthuis, von denen die Miereveltsche als Vorgängerin der Rembrandtschen von ganz besonderm Interesse ist, übrigens auch zu den am besten arrangierten und am freiesten gemalten Bildern des Deister Altmeisters gehört. Den 6. September 1878. Die Studien im königlichen Museum, im Ge- meindemuseum, im niederländischen Museum, im Museum Meermanno-Westree- nianum, im Hülf ten Bosch und in der Bibliothek hatte ich heute Nachmittag beendet, soweit sie in meinem diesjährigen Plane lagen; überall war ich freund¬ lich aufgenommen und von den Herren Directoren mit Rath und That unter¬ stützt worden. Auch des Baron Steengrachts treffliche Privatgalerie hatte ich wiedergesehen. Jetzt zog es uns mächtig hinaus durchs Holz an die See; und wir verlebten einen unvergeßlichen Abend in Scheveningen. Die Dünen haben ner einen melancholisch großartigen Charakter, von dem die belgischen Dünen bei Ostende, Blankenberghe und Heyse keinen Begriff geben. Die Reihe ist breiter. Die Höhen sind höher. Die Thäler sind tiefer. Man kann sich in die meilen¬ weite Einöde vergraben, man kann sich in ihr verirren; und das alles in nächster Nähe der großen Hauptstadt des Reiches! Im Angesichte des Meeres legten wir uns in die Dünen. Ich las Tenny- Wns „Enoch Arten" vor. Das hohe Dünengras nickte zu unsern Häuptern. Unsere Blicke schweiften vom Buche wiederholt aufs Meer. Am Horizonte stand wie Nebelbank. Als die niedersinkende Sonne dieselbe erreicht, verwandelte sie steh in eine blutrothe Scheibe und warf einen festbegrenzten breiten Purpur- streiftn durchs ganze Meer bis zu den leicht am Strande brandenden Wellen. Am Horizonte ward es allmählich dunkel, nur vorn am Strande, wo die leichten Kräuselwellen anplätscherten, spiegelten die Lichter des Himmels sich wieder: rothgolden an einer Stelle, wo jener Purpurstreif noch immer in den Fluthen "achglänzte; weich-silbern dicht daneben; merkwürdig zart und fein; eine Fülle klarer, wunderbar feiner Farbenpoesie. Ja! weder die alten noch die neuen Blöker haben das volle innere Leben der Luft über dem Meere und des Glanz¬ spiels in den Wellen darzustellen vermocht. Die Natur ist hier, auch von ihrem raschwechselnden Schillern und Glitzern abgesehen, unendlich viel geistreicher, lebendiger und tiefer, als Pinsel und Farbe es bis jetzt jemals wiedergegeben haben. Ich fgh hxM Abend Augenblicke, die, weit entfernt von phänomenaler ^ffecthascherei, den Künstler, der sie zu fesseln vermöchte, unsterblich machen würden. Einige Strandbilder von Eng. Ducker kommen der Natur in allen

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157695
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157695/235
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157695/235>, abgerufen am 28.12.2024.