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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Viertes Quartal.

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ansah, konnte man wieder einmal gewahr werden, wie sehr Lessing, dessen "Laokoon"
von superkluger Leuten als veraltet über die Achsel angesehen wird, mit seinen
scharfsinnigen Betrachtungen über den "fruchtbaren Moment" Recht hat. Diese
Elisabeth, die auf ewig verurtheilt worden ist, "im Begriff zu sein", das Todes¬
urtheil zu unterzeichnen, ist trotz ihrer fleißigen malerischen Ausführung ein un¬
glücklicher Gedanke, der am Ende unsern Humor herausfordert.

Seit 1874 hat sich Liezen-Mayer ausschließlich der Illustration gewidmet.
Ein Münchener Verleger stellte ihm zwei große Aufgaben, deren er sich mit
unleugbaren Geschick entledigt hat: die Illustration des "Faust" in fünfzig und
des "Liedes von der Glocke" in zweiunddreißig Blättern. Schon die Ent¬
stehungsweise des "Faust", der verschiedenartige Charakter der einzelnen Partien,
welche vom Dichter zum Theil in weit auseinander liegenden Zeiträumen ge¬
staltet worden sind, legt dem Künstler große Schwierigkeiten in den Weg, die er
nur dadurch überwinden kann, daß er dem Dichter nur die äußern Umrisse ent¬
lehnt und für die feinere Ausführung seiner eigenen Eingebung folgt. Den
ganzen Gehalt des universalen Gedichts mit dem Zeichenstifte erschöpfen zu
wollen, wäre ohnehin ein aussichtsloses Beginnen, und ob dann gerade Liezen-
Mayer, der Ungar, der rechte Mann gewesen wäre, um den specifisch germani¬
schen Charakter des einzigen Gedichts in allen seinen Eigenthümlichkeiten und in
seinem schier unerschöpflichen Reichthum zum Ausdruck zu bringen, ist eine Frage,
die noch gesondert zu behandeln wäre. Liezen-Mayer hat diese Schwierigkeiten
denn auch wohl empfunden und ist ihnen hübsch aus dem Wege gegangen. Er
hat den philosophischen Kern bei Seite gelassen und sich nur an die realistische
Schaale gehalten, die man ja auch bei den von Weimar ausgegangenen Faust-
aufführungen blank und gefällig herausgeputzt hat. Als echter Pilotyschüler hat
er die costümliche Folie mit Erfolg verwerthet und manche Scene durch ein
reiches Aufgebot von Figuren zu einem lebhaft bewegten Genrebild von maleri¬
scher Wirkung gestaltet. Sein großes zeichnerisches Geschick und die Leichtigkeit
seines Schaffens hat der ganzen Jllustrationsfolge freilich einen etwas uniformen
Charakter aufgedrückt. Es ist alles gleich glatt, elegant und correct. Man
wird an die gleichmäßigen Federzüge eines Kalligraphen erinnert, denen man
nicht die geringste Regelwidrigkeit vorwerfen kann, die sich aber auch nicht,
weil sie eines bestimmten individuellen Charakters entbehren, dem Gedächtnisse
einprägen.

Das "Lied von der Glocke" bot dem Künstler eine lange Reihe von Motiven,
die sich rein realistisch durchführen ließen: auf der einen Seite den Guß der
Glocke und die mannichfciltigen Arbeitsstadien in der Werkstatt des Gießers, auf
der andern die wechselnden Phasen des Menschenlebens von der Wiege bis zum
Grabe. Indem diese beiden Leitmotive neben einander hergehen, hat das ganze Werk


ansah, konnte man wieder einmal gewahr werden, wie sehr Lessing, dessen „Laokoon"
von superkluger Leuten als veraltet über die Achsel angesehen wird, mit seinen
scharfsinnigen Betrachtungen über den „fruchtbaren Moment" Recht hat. Diese
Elisabeth, die auf ewig verurtheilt worden ist, „im Begriff zu sein", das Todes¬
urtheil zu unterzeichnen, ist trotz ihrer fleißigen malerischen Ausführung ein un¬
glücklicher Gedanke, der am Ende unsern Humor herausfordert.

Seit 1874 hat sich Liezen-Mayer ausschließlich der Illustration gewidmet.
Ein Münchener Verleger stellte ihm zwei große Aufgaben, deren er sich mit
unleugbaren Geschick entledigt hat: die Illustration des „Faust" in fünfzig und
des „Liedes von der Glocke" in zweiunddreißig Blättern. Schon die Ent¬
stehungsweise des „Faust", der verschiedenartige Charakter der einzelnen Partien,
welche vom Dichter zum Theil in weit auseinander liegenden Zeiträumen ge¬
staltet worden sind, legt dem Künstler große Schwierigkeiten in den Weg, die er
nur dadurch überwinden kann, daß er dem Dichter nur die äußern Umrisse ent¬
lehnt und für die feinere Ausführung seiner eigenen Eingebung folgt. Den
ganzen Gehalt des universalen Gedichts mit dem Zeichenstifte erschöpfen zu
wollen, wäre ohnehin ein aussichtsloses Beginnen, und ob dann gerade Liezen-
Mayer, der Ungar, der rechte Mann gewesen wäre, um den specifisch germani¬
schen Charakter des einzigen Gedichts in allen seinen Eigenthümlichkeiten und in
seinem schier unerschöpflichen Reichthum zum Ausdruck zu bringen, ist eine Frage,
die noch gesondert zu behandeln wäre. Liezen-Mayer hat diese Schwierigkeiten
denn auch wohl empfunden und ist ihnen hübsch aus dem Wege gegangen. Er
hat den philosophischen Kern bei Seite gelassen und sich nur an die realistische
Schaale gehalten, die man ja auch bei den von Weimar ausgegangenen Faust-
aufführungen blank und gefällig herausgeputzt hat. Als echter Pilotyschüler hat
er die costümliche Folie mit Erfolg verwerthet und manche Scene durch ein
reiches Aufgebot von Figuren zu einem lebhaft bewegten Genrebild von maleri¬
scher Wirkung gestaltet. Sein großes zeichnerisches Geschick und die Leichtigkeit
seines Schaffens hat der ganzen Jllustrationsfolge freilich einen etwas uniformen
Charakter aufgedrückt. Es ist alles gleich glatt, elegant und correct. Man
wird an die gleichmäßigen Federzüge eines Kalligraphen erinnert, denen man
nicht die geringste Regelwidrigkeit vorwerfen kann, die sich aber auch nicht,
weil sie eines bestimmten individuellen Charakters entbehren, dem Gedächtnisse
einprägen.

Das „Lied von der Glocke" bot dem Künstler eine lange Reihe von Motiven,
die sich rein realistisch durchführen ließen: auf der einen Seite den Guß der
Glocke und die mannichfciltigen Arbeitsstadien in der Werkstatt des Gießers, auf
der andern die wechselnden Phasen des Menschenlebens von der Wiege bis zum
Grabe. Indem diese beiden Leitmotive neben einander hergehen, hat das ganze Werk


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157695/197>, abgerufen am 28.12.2024.