Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Viertes Quartal.der richtigen Seite anzusehen. Man hat sich vielfach gewöhnt, die Judenver¬ der richtigen Seite anzusehen. Man hat sich vielfach gewöhnt, die Judenver¬ <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0187" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/147834"/> <p xml:id="ID_529" prev="#ID_528" next="#ID_530"> der richtigen Seite anzusehen. Man hat sich vielfach gewöhnt, die Judenver¬<lb/> folgungen als religiöse Verfolgungen, deu Haß gegen die Juden als Religions-<lb/> haß aufzufassen; diese Auffassung hat sich verbreitet deshalb, weil die Verfolgungen<lb/> und der Haß in früherer Zeit gern die Religion zum Deckmantel nahmen. In<lb/> Wahrheit hat man in audern Jahrhunderten im Ganzen die Juden eben so wenig<lb/> aus religiösem Eifer verfolgt als man sie gegenwärtig um ihres Glaubens<lb/> willen haßt- Vielmehr waren vielleicht neunzig Procent aller der zahllosen<lb/> Austreibungen der Juden aus allen Ländern und Städten Europas einfache<lb/> Raubzüge, oder, wie manche es lieber werden nennen hören, finanzielle Em¬<lb/> pörungen der Völker oder Fürsten gegen die Geldherrschaft der Juden. Daß<lb/> dem so war, ergiebt sich daraus, daß meines Wissens nie eine Judmverfolguug<lb/> in größerem Maaßstabe stattgefunden hat, ohne daß dabei die Verfolgten ihre<lb/> Habe verloren und die Verfolger sie an sich brachten. Man schlug auf den<lb/> jüdischen Talmud und meinte stets die jüdische Börse. Selbst eine so vor¬<lb/> wiegend ans Glaubenseifer entsprungene Verfolgung, wie das barbarische<lb/> Wüthen des katholischen Ferdinand 1492 es war, verbot den Juden Gold und<lb/> Silber mitzunehmen in einer Zeit, wo fast alles bewegliche Vermögen in Gold<lb/> und Silber bestand. Und darin hat sich das civilisierte neunzehnte Jahrhundert<lb/> offenbar gegen seine Vorgänger nicht erheblich verändert. Einige Schlachtrufe<lb/> klingen anders, wahrhaftiger als früher: statt „jüdische Zauberer" sagt man<lb/> „jüdische Wucherer", statt „jüdische Opfer an Christenkindern" sagt man „jüdische<lb/> Aussaugung der Christen". Im Grnnde schmäht mau heute so wenig wie ehedem<lb/> die Religion von Israel, im Grunde ist der Haß gegen Israel in erster Reihe<lb/> aus Motiven des Besitzes und des Erwerbes entsprungen, und in zweiter Reihe<lb/> aus dem sittliche» Bewußtsein. Noch eine dritte Quelle wäre zu nennen: der<lb/> Gegensatz der Rasse. Und für die, welche geneigt sind, den Haß gegen das<lb/> Judenthum zu den unwürdigsten Empfindungen zu rechnen, welche im Zeit¬<lb/> alter der Bildung keinen Raum haben dürfen, möchte es erspießlich sein zu be¬<lb/> denken, mit welch tiefem Hasse sich heute noch die gebildetsten Völker Europas<lb/> aus wenig andern Gründen gegenüberstehen, als weil staatliche Herrschbegier<lb/> oder Ruhmsucht, ja noch weniger praktisch bestimmbare Motive sie dazu treiben.<lb/> Einfach die Entwickelung der nationalen Individualität scheint zu genügen, um<lb/> in den Völkern feindselige Gesinnung, den nackten Rassenhaß zu erzeugen. So<lb/> lange aber auch die Juden nun schon nnter uns wohnen, so ist ihre nationale<lb/> Eigenart doch bisher ungeschwächt geblieben, eine Eigenart, welche ohne Zweifel<lb/> mehr Verschiedenheit vou derjenigen des Deutschen oder Engländers aufweist,<lb/> als sich Franzosen oder Italiener von uns unterscheiden. Wenn man nun die<lb/> Feindschaft zwischen Deutschen und Franzosen, Deutschen und Slawen nicht für</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0187]
der richtigen Seite anzusehen. Man hat sich vielfach gewöhnt, die Judenver¬
folgungen als religiöse Verfolgungen, deu Haß gegen die Juden als Religions-
haß aufzufassen; diese Auffassung hat sich verbreitet deshalb, weil die Verfolgungen
und der Haß in früherer Zeit gern die Religion zum Deckmantel nahmen. In
Wahrheit hat man in audern Jahrhunderten im Ganzen die Juden eben so wenig
aus religiösem Eifer verfolgt als man sie gegenwärtig um ihres Glaubens
willen haßt- Vielmehr waren vielleicht neunzig Procent aller der zahllosen
Austreibungen der Juden aus allen Ländern und Städten Europas einfache
Raubzüge, oder, wie manche es lieber werden nennen hören, finanzielle Em¬
pörungen der Völker oder Fürsten gegen die Geldherrschaft der Juden. Daß
dem so war, ergiebt sich daraus, daß meines Wissens nie eine Judmverfolguug
in größerem Maaßstabe stattgefunden hat, ohne daß dabei die Verfolgten ihre
Habe verloren und die Verfolger sie an sich brachten. Man schlug auf den
jüdischen Talmud und meinte stets die jüdische Börse. Selbst eine so vor¬
wiegend ans Glaubenseifer entsprungene Verfolgung, wie das barbarische
Wüthen des katholischen Ferdinand 1492 es war, verbot den Juden Gold und
Silber mitzunehmen in einer Zeit, wo fast alles bewegliche Vermögen in Gold
und Silber bestand. Und darin hat sich das civilisierte neunzehnte Jahrhundert
offenbar gegen seine Vorgänger nicht erheblich verändert. Einige Schlachtrufe
klingen anders, wahrhaftiger als früher: statt „jüdische Zauberer" sagt man
„jüdische Wucherer", statt „jüdische Opfer an Christenkindern" sagt man „jüdische
Aussaugung der Christen". Im Grnnde schmäht mau heute so wenig wie ehedem
die Religion von Israel, im Grunde ist der Haß gegen Israel in erster Reihe
aus Motiven des Besitzes und des Erwerbes entsprungen, und in zweiter Reihe
aus dem sittliche» Bewußtsein. Noch eine dritte Quelle wäre zu nennen: der
Gegensatz der Rasse. Und für die, welche geneigt sind, den Haß gegen das
Judenthum zu den unwürdigsten Empfindungen zu rechnen, welche im Zeit¬
alter der Bildung keinen Raum haben dürfen, möchte es erspießlich sein zu be¬
denken, mit welch tiefem Hasse sich heute noch die gebildetsten Völker Europas
aus wenig andern Gründen gegenüberstehen, als weil staatliche Herrschbegier
oder Ruhmsucht, ja noch weniger praktisch bestimmbare Motive sie dazu treiben.
Einfach die Entwickelung der nationalen Individualität scheint zu genügen, um
in den Völkern feindselige Gesinnung, den nackten Rassenhaß zu erzeugen. So
lange aber auch die Juden nun schon nnter uns wohnen, so ist ihre nationale
Eigenart doch bisher ungeschwächt geblieben, eine Eigenart, welche ohne Zweifel
mehr Verschiedenheit vou derjenigen des Deutschen oder Engländers aufweist,
als sich Franzosen oder Italiener von uns unterscheiden. Wenn man nun die
Feindschaft zwischen Deutschen und Franzosen, Deutschen und Slawen nicht für
Informationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.
Weitere Informationen:Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur. Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (ꝛ): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja; Nachkorrektur erfolgte automatisch.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |