Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Viertes Quartal.

Bild:
<< vorherige Seite

tretender Hungersnot!) oder epidemischer Krankheiten. Ursachen, welche Jahrhun¬
derte lang wirksam waren, mögen in unserer Zeit in ihrer Kraft geschwächt sein,
ohne doch gänzlich aufgehört zu haben über die Gemüther der Menschen einige
Macht zu üben. Wir leben augenscheinlich in einer Periode der Vorbereitung auf
bedeutende wirthschaftliche Neuerungen, welche hervorgetrieben werden durch die
Erfahrung, daß unsere bisherige Art der Arbeit nicht ausreicht, um uns vor
schweren Nvthlagen zu sichern. Wir haben feit Jahren vor unsern Augen die
Erscheinung eines allgemeinen Sinkens des Wohlstandes und seit Monaten die
einer Mißernte, welche eine erhebliche Theuerung der Lebensmittel auch dort
hervorbringt, wo die Ernte weniger schlecht als anderswo ausgefallen ist. Wir
können die Möglichkeit nicht abweisen, daß fernere Ungunst unsere wirthschaft¬
lichen Zustünde trifft und die Noth im Volke solche Leidenschaften aufreizt, wie
sie einem gefüllten Magen fremd zu bleiben pflegen. Dann könnte es sich leicht
herausstellen, daß die Wirkungen des Hungers heute nicht allzuweit in ihrer
Richtung abweichen von denen, welche bei unsern Vorältern beobachtet wurden,
und daß alle civilisierten Gesinnungen der Massen von der Voraussetzung aus¬
gehen, daß dem Körper in civilisierter Weise feine Gerechtigkeit werde. Mich
dünkt, es wäre unklug, wenn man sich unter allen Umständen auf die Unfehl¬
barkeit der Cultur verließe, es wäre gefährlich, wenn man meinte keiner Vor¬
sicht zu bedürfen im Vertrauen auf den sichern Besitz einer durch lange Erzie¬
hung verfeinerten Denkweise des Volkes, welche jegliches Auflodern gewaltthätiger
und ungerechter Leidenschaften unmöglich mache. Diese Theorie wird gerade
von dem aufgeklärten Judenthum gern vertreten. Allein wenn dieses Juden-
thum auf die Bildung des neunzehnten Jahrhunderts pocht, wenn es ihm thö¬
richt erscheint von einer künftigen Judenverfolgung mich nur zu reden, so ver¬
birgt sich dahinter oft der Mangel an objectiver Erwägung der Umstände, oft
auch das Bestreben die wirkliche Gefahr zu verscheuchen, indem mau sie für ein
Gespenst erkürt, oft die Taktik, die Menschen zu überreden, daß sie eine schlechte
Handlung nicht begehen können, in der Absicht sie dadurch zu verhindern,
daß sie sie begehen. Es ist vielleicht in ruhigen Zeiten der Zufriedenheit
rathsam, die Massen nicht an Leidenschaften zu erinnern, welche sie zu andern
Zeiten bewegt haben. Aber es wäre unklug, die Erinnerung an solche Leiden¬
schaften in sich selbst auch dann zu unterdrücken, wenn Anzeichen dafür auf¬
treten, daß im Innern des scheinbar erloschenen Kraters wieder dieselben Ele¬
mente in Bewegung gerathen, die einst heftige Ausbrüche veranlaßten.

Ich fürchte nicht, daß wir nahe vor einer großen Judenhetze stehen. Wer aber
in Deutschland die hie und da auftauchende Feindseligkeit gegen die Juden als
die Ausgeburt finstersten Aberglaubens, barbarischer Jmmoralitüt, fanatischer
Rohheit der religiösen Gesinnung darstellt, der scheint mir die Sache nicht von


tretender Hungersnot!) oder epidemischer Krankheiten. Ursachen, welche Jahrhun¬
derte lang wirksam waren, mögen in unserer Zeit in ihrer Kraft geschwächt sein,
ohne doch gänzlich aufgehört zu haben über die Gemüther der Menschen einige
Macht zu üben. Wir leben augenscheinlich in einer Periode der Vorbereitung auf
bedeutende wirthschaftliche Neuerungen, welche hervorgetrieben werden durch die
Erfahrung, daß unsere bisherige Art der Arbeit nicht ausreicht, um uns vor
schweren Nvthlagen zu sichern. Wir haben feit Jahren vor unsern Augen die
Erscheinung eines allgemeinen Sinkens des Wohlstandes und seit Monaten die
einer Mißernte, welche eine erhebliche Theuerung der Lebensmittel auch dort
hervorbringt, wo die Ernte weniger schlecht als anderswo ausgefallen ist. Wir
können die Möglichkeit nicht abweisen, daß fernere Ungunst unsere wirthschaft¬
lichen Zustünde trifft und die Noth im Volke solche Leidenschaften aufreizt, wie
sie einem gefüllten Magen fremd zu bleiben pflegen. Dann könnte es sich leicht
herausstellen, daß die Wirkungen des Hungers heute nicht allzuweit in ihrer
Richtung abweichen von denen, welche bei unsern Vorältern beobachtet wurden,
und daß alle civilisierten Gesinnungen der Massen von der Voraussetzung aus¬
gehen, daß dem Körper in civilisierter Weise feine Gerechtigkeit werde. Mich
dünkt, es wäre unklug, wenn man sich unter allen Umständen auf die Unfehl¬
barkeit der Cultur verließe, es wäre gefährlich, wenn man meinte keiner Vor¬
sicht zu bedürfen im Vertrauen auf den sichern Besitz einer durch lange Erzie¬
hung verfeinerten Denkweise des Volkes, welche jegliches Auflodern gewaltthätiger
und ungerechter Leidenschaften unmöglich mache. Diese Theorie wird gerade
von dem aufgeklärten Judenthum gern vertreten. Allein wenn dieses Juden-
thum auf die Bildung des neunzehnten Jahrhunderts pocht, wenn es ihm thö¬
richt erscheint von einer künftigen Judenverfolgung mich nur zu reden, so ver¬
birgt sich dahinter oft der Mangel an objectiver Erwägung der Umstände, oft
auch das Bestreben die wirkliche Gefahr zu verscheuchen, indem mau sie für ein
Gespenst erkürt, oft die Taktik, die Menschen zu überreden, daß sie eine schlechte
Handlung nicht begehen können, in der Absicht sie dadurch zu verhindern,
daß sie sie begehen. Es ist vielleicht in ruhigen Zeiten der Zufriedenheit
rathsam, die Massen nicht an Leidenschaften zu erinnern, welche sie zu andern
Zeiten bewegt haben. Aber es wäre unklug, die Erinnerung an solche Leiden¬
schaften in sich selbst auch dann zu unterdrücken, wenn Anzeichen dafür auf¬
treten, daß im Innern des scheinbar erloschenen Kraters wieder dieselben Ele¬
mente in Bewegung gerathen, die einst heftige Ausbrüche veranlaßten.

Ich fürchte nicht, daß wir nahe vor einer großen Judenhetze stehen. Wer aber
in Deutschland die hie und da auftauchende Feindseligkeit gegen die Juden als
die Ausgeburt finstersten Aberglaubens, barbarischer Jmmoralitüt, fanatischer
Rohheit der religiösen Gesinnung darstellt, der scheint mir die Sache nicht von


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0186" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/147833"/>
          <p xml:id="ID_527" prev="#ID_526"> tretender Hungersnot!) oder epidemischer Krankheiten. Ursachen, welche Jahrhun¬<lb/>
derte lang wirksam waren, mögen in unserer Zeit in ihrer Kraft geschwächt sein,<lb/>
ohne doch gänzlich aufgehört zu haben über die Gemüther der Menschen einige<lb/>
Macht zu üben. Wir leben augenscheinlich in einer Periode der Vorbereitung auf<lb/>
bedeutende wirthschaftliche Neuerungen, welche hervorgetrieben werden durch die<lb/>
Erfahrung, daß unsere bisherige Art der Arbeit nicht ausreicht, um uns vor<lb/>
schweren Nvthlagen zu sichern. Wir haben feit Jahren vor unsern Augen die<lb/>
Erscheinung eines allgemeinen Sinkens des Wohlstandes und seit Monaten die<lb/>
einer Mißernte, welche eine erhebliche Theuerung der Lebensmittel auch dort<lb/>
hervorbringt, wo die Ernte weniger schlecht als anderswo ausgefallen ist. Wir<lb/>
können die Möglichkeit nicht abweisen, daß fernere Ungunst unsere wirthschaft¬<lb/>
lichen Zustünde trifft und die Noth im Volke solche Leidenschaften aufreizt, wie<lb/>
sie einem gefüllten Magen fremd zu bleiben pflegen. Dann könnte es sich leicht<lb/>
herausstellen, daß die Wirkungen des Hungers heute nicht allzuweit in ihrer<lb/>
Richtung abweichen von denen, welche bei unsern Vorältern beobachtet wurden,<lb/>
und daß alle civilisierten Gesinnungen der Massen von der Voraussetzung aus¬<lb/>
gehen, daß dem Körper in civilisierter Weise feine Gerechtigkeit werde. Mich<lb/>
dünkt, es wäre unklug, wenn man sich unter allen Umständen auf die Unfehl¬<lb/>
barkeit der Cultur verließe, es wäre gefährlich, wenn man meinte keiner Vor¬<lb/>
sicht zu bedürfen im Vertrauen auf den sichern Besitz einer durch lange Erzie¬<lb/>
hung verfeinerten Denkweise des Volkes, welche jegliches Auflodern gewaltthätiger<lb/>
und ungerechter Leidenschaften unmöglich mache. Diese Theorie wird gerade<lb/>
von dem aufgeklärten Judenthum gern vertreten. Allein wenn dieses Juden-<lb/>
thum auf die Bildung des neunzehnten Jahrhunderts pocht, wenn es ihm thö¬<lb/>
richt erscheint von einer künftigen Judenverfolgung mich nur zu reden, so ver¬<lb/>
birgt sich dahinter oft der Mangel an objectiver Erwägung der Umstände, oft<lb/>
auch das Bestreben die wirkliche Gefahr zu verscheuchen, indem mau sie für ein<lb/>
Gespenst erkürt, oft die Taktik, die Menschen zu überreden, daß sie eine schlechte<lb/>
Handlung nicht begehen können, in der Absicht sie dadurch zu verhindern,<lb/>
daß sie sie begehen. Es ist vielleicht in ruhigen Zeiten der Zufriedenheit<lb/>
rathsam, die Massen nicht an Leidenschaften zu erinnern, welche sie zu andern<lb/>
Zeiten bewegt haben. Aber es wäre unklug, die Erinnerung an solche Leiden¬<lb/>
schaften in sich selbst auch dann zu unterdrücken, wenn Anzeichen dafür auf¬<lb/>
treten, daß im Innern des scheinbar erloschenen Kraters wieder dieselben Ele¬<lb/>
mente in Bewegung gerathen, die einst heftige Ausbrüche veranlaßten.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_528" next="#ID_529"> Ich fürchte nicht, daß wir nahe vor einer großen Judenhetze stehen. Wer aber<lb/>
in Deutschland die hie und da auftauchende Feindseligkeit gegen die Juden als<lb/>
die Ausgeburt finstersten Aberglaubens, barbarischer Jmmoralitüt, fanatischer<lb/>
Rohheit der religiösen Gesinnung darstellt, der scheint mir die Sache nicht von</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0186] tretender Hungersnot!) oder epidemischer Krankheiten. Ursachen, welche Jahrhun¬ derte lang wirksam waren, mögen in unserer Zeit in ihrer Kraft geschwächt sein, ohne doch gänzlich aufgehört zu haben über die Gemüther der Menschen einige Macht zu üben. Wir leben augenscheinlich in einer Periode der Vorbereitung auf bedeutende wirthschaftliche Neuerungen, welche hervorgetrieben werden durch die Erfahrung, daß unsere bisherige Art der Arbeit nicht ausreicht, um uns vor schweren Nvthlagen zu sichern. Wir haben feit Jahren vor unsern Augen die Erscheinung eines allgemeinen Sinkens des Wohlstandes und seit Monaten die einer Mißernte, welche eine erhebliche Theuerung der Lebensmittel auch dort hervorbringt, wo die Ernte weniger schlecht als anderswo ausgefallen ist. Wir können die Möglichkeit nicht abweisen, daß fernere Ungunst unsere wirthschaft¬ lichen Zustünde trifft und die Noth im Volke solche Leidenschaften aufreizt, wie sie einem gefüllten Magen fremd zu bleiben pflegen. Dann könnte es sich leicht herausstellen, daß die Wirkungen des Hungers heute nicht allzuweit in ihrer Richtung abweichen von denen, welche bei unsern Vorältern beobachtet wurden, und daß alle civilisierten Gesinnungen der Massen von der Voraussetzung aus¬ gehen, daß dem Körper in civilisierter Weise feine Gerechtigkeit werde. Mich dünkt, es wäre unklug, wenn man sich unter allen Umständen auf die Unfehl¬ barkeit der Cultur verließe, es wäre gefährlich, wenn man meinte keiner Vor¬ sicht zu bedürfen im Vertrauen auf den sichern Besitz einer durch lange Erzie¬ hung verfeinerten Denkweise des Volkes, welche jegliches Auflodern gewaltthätiger und ungerechter Leidenschaften unmöglich mache. Diese Theorie wird gerade von dem aufgeklärten Judenthum gern vertreten. Allein wenn dieses Juden- thum auf die Bildung des neunzehnten Jahrhunderts pocht, wenn es ihm thö¬ richt erscheint von einer künftigen Judenverfolgung mich nur zu reden, so ver¬ birgt sich dahinter oft der Mangel an objectiver Erwägung der Umstände, oft auch das Bestreben die wirkliche Gefahr zu verscheuchen, indem mau sie für ein Gespenst erkürt, oft die Taktik, die Menschen zu überreden, daß sie eine schlechte Handlung nicht begehen können, in der Absicht sie dadurch zu verhindern, daß sie sie begehen. Es ist vielleicht in ruhigen Zeiten der Zufriedenheit rathsam, die Massen nicht an Leidenschaften zu erinnern, welche sie zu andern Zeiten bewegt haben. Aber es wäre unklug, die Erinnerung an solche Leiden¬ schaften in sich selbst auch dann zu unterdrücken, wenn Anzeichen dafür auf¬ treten, daß im Innern des scheinbar erloschenen Kraters wieder dieselben Ele¬ mente in Bewegung gerathen, die einst heftige Ausbrüche veranlaßten. Ich fürchte nicht, daß wir nahe vor einer großen Judenhetze stehen. Wer aber in Deutschland die hie und da auftauchende Feindseligkeit gegen die Juden als die Ausgeburt finstersten Aberglaubens, barbarischer Jmmoralitüt, fanatischer Rohheit der religiösen Gesinnung darstellt, der scheint mir die Sache nicht von

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157695
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157695/186
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157695/186>, abgerufen am 28.12.2024.