Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Viertes Quartal.

Bild:
<< vorherige Seite

sprvchen, manchmal aber hielt es schwer, die Betheiligten von der Zweckmäßig¬
keit oder Nothwendigkeit des Vorgeschlagenen zu überzeugen. Sehr oft waren es
sogar gerade die "praktischen Leute", welche in dieser Hinsicht! Opposition machten
und zuweilen selbst Arbeiter dagegen ins Feld führten mit dem stets sich wieder¬
holenden Beweismittel, "daß ihnen in ihrer langen Dienstzeit noch nichts passiert
sei". In einzelnen Fällen dieser Art "passierte etwas" kurz darauf. Der be¬
treffende Fabrikinspector empfand es als einen Mangel seiner Jnstructiousau-
weisuug, daß er in solchen Fällen nicht zur Anwendung eines Zwanges sich
berechtigt halten konnte.

Nachdem wir im Vorstehenden die Nachtheile angedeutet haben, welche
neben unrichtiger Auffassung der Haftpflicht aus dem Verhalten den Sicher¬
heitsmaßregeln gegenüber seitens des Arbeitgebers wie des Arbeiters entstehen,
wollen wir nun einzelne Mängel des Haftpflichtgesetzes selbst hervorheben.

Die Haftpflicht hat am Rheine seit mehr als sechzig Jahren in weit grö¬
ßerem Umfange bestanden, als sie das deutsche Gesetz vom 7. Juni 1871 fest¬
setzt. Das französische Gesetz verpflichtet nämlich in der weitestgehenden Weise
jeden zum Ersatz des vollen durch schuldhafte Handlungen oder Unterlassungen
verursachten Schadens. Es ist vorgekommen, daß während der Arbeitszeit ein
Junge im Streit oder aus Muthwillen einem anderen mit einem Steinwurf
das Auge beschädigte. Der Unternehmer wurde haftbar erklärt, weil bei ge¬
nügender Aufsicht die Jungen sich uicht mit Steinen werfen durften und konnten.
Immer freilich muß irgend ein Verschulden des Unternehmers direct oder con¬
currierend bewiesen werden. Das französische Gesetz ging also bedeutend weiter
als das deutsche. Das letztere ist aber auch allgemeiner und überläßt es dem
freien Ermessen des Richters über Dinge zu urtheilen und Verhältnisse abzu¬
wägen, welche in ihrer concreten Specialisieruug vou ihm uicht übersehen werden
können. Selbst unser neues deutsches Gesetz ist für die ungeheuere Mannla,-
sättigten der Fälle, welche durch die complicierte Entwicklung unserer Industrie
geschaffen worden find, zu allgemein und muthet dem Richter zuviel zu. Die
Verschiedenartigkeit, ja die oft vollständig entgegengesetzten Verhältnisse der ein¬
zelnen Industriezweige, zu welchen auch die Landwirthschaft und das Baugewerbe
mit ihren Maschinen gerechnet werden müssen, erschweren die Auslegung des
Gesetzes ungemein. Das Verunglücken eines Bergmanns läßt sich nicht mit
dem eines Spinners oder Webers, dieses nicht mit dem eines Hüttenarbeiters,
eines Müllers, eines Handlangers ?c. vergleichen. Ganz anders liegen die Ver¬
hältnisse wieder bei den Arbeitern in Steinbrüchen, chemischen Fabriken und
Transportanstalten. Trotz aller Aufklärung und Auseinandersetzung ist ein Ge¬
richt ohne specielle technische Beisitzer nicht in der Lage, einen Specialfall aus¬
reichend würdigen zu können. Dies gilt um so mehr, als das Haftpflichtgesetz


sprvchen, manchmal aber hielt es schwer, die Betheiligten von der Zweckmäßig¬
keit oder Nothwendigkeit des Vorgeschlagenen zu überzeugen. Sehr oft waren es
sogar gerade die „praktischen Leute", welche in dieser Hinsicht! Opposition machten
und zuweilen selbst Arbeiter dagegen ins Feld führten mit dem stets sich wieder¬
holenden Beweismittel, „daß ihnen in ihrer langen Dienstzeit noch nichts passiert
sei". In einzelnen Fällen dieser Art „passierte etwas" kurz darauf. Der be¬
treffende Fabrikinspector empfand es als einen Mangel seiner Jnstructiousau-
weisuug, daß er in solchen Fällen nicht zur Anwendung eines Zwanges sich
berechtigt halten konnte.

Nachdem wir im Vorstehenden die Nachtheile angedeutet haben, welche
neben unrichtiger Auffassung der Haftpflicht aus dem Verhalten den Sicher¬
heitsmaßregeln gegenüber seitens des Arbeitgebers wie des Arbeiters entstehen,
wollen wir nun einzelne Mängel des Haftpflichtgesetzes selbst hervorheben.

Die Haftpflicht hat am Rheine seit mehr als sechzig Jahren in weit grö¬
ßerem Umfange bestanden, als sie das deutsche Gesetz vom 7. Juni 1871 fest¬
setzt. Das französische Gesetz verpflichtet nämlich in der weitestgehenden Weise
jeden zum Ersatz des vollen durch schuldhafte Handlungen oder Unterlassungen
verursachten Schadens. Es ist vorgekommen, daß während der Arbeitszeit ein
Junge im Streit oder aus Muthwillen einem anderen mit einem Steinwurf
das Auge beschädigte. Der Unternehmer wurde haftbar erklärt, weil bei ge¬
nügender Aufsicht die Jungen sich uicht mit Steinen werfen durften und konnten.
Immer freilich muß irgend ein Verschulden des Unternehmers direct oder con¬
currierend bewiesen werden. Das französische Gesetz ging also bedeutend weiter
als das deutsche. Das letztere ist aber auch allgemeiner und überläßt es dem
freien Ermessen des Richters über Dinge zu urtheilen und Verhältnisse abzu¬
wägen, welche in ihrer concreten Specialisieruug vou ihm uicht übersehen werden
können. Selbst unser neues deutsches Gesetz ist für die ungeheuere Mannla,-
sättigten der Fälle, welche durch die complicierte Entwicklung unserer Industrie
geschaffen worden find, zu allgemein und muthet dem Richter zuviel zu. Die
Verschiedenartigkeit, ja die oft vollständig entgegengesetzten Verhältnisse der ein¬
zelnen Industriezweige, zu welchen auch die Landwirthschaft und das Baugewerbe
mit ihren Maschinen gerechnet werden müssen, erschweren die Auslegung des
Gesetzes ungemein. Das Verunglücken eines Bergmanns läßt sich nicht mit
dem eines Spinners oder Webers, dieses nicht mit dem eines Hüttenarbeiters,
eines Müllers, eines Handlangers ?c. vergleichen. Ganz anders liegen die Ver¬
hältnisse wieder bei den Arbeitern in Steinbrüchen, chemischen Fabriken und
Transportanstalten. Trotz aller Aufklärung und Auseinandersetzung ist ein Ge¬
richt ohne specielle technische Beisitzer nicht in der Lage, einen Specialfall aus¬
reichend würdigen zu können. Dies gilt um so mehr, als das Haftpflichtgesetz


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0142" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/147789"/>
          <p xml:id="ID_395" prev="#ID_394"> sprvchen, manchmal aber hielt es schwer, die Betheiligten von der Zweckmäßig¬<lb/>
keit oder Nothwendigkeit des Vorgeschlagenen zu überzeugen. Sehr oft waren es<lb/>
sogar gerade die &#x201E;praktischen Leute", welche in dieser Hinsicht! Opposition machten<lb/>
und zuweilen selbst Arbeiter dagegen ins Feld führten mit dem stets sich wieder¬<lb/>
holenden Beweismittel, &#x201E;daß ihnen in ihrer langen Dienstzeit noch nichts passiert<lb/>
sei". In einzelnen Fällen dieser Art &#x201E;passierte etwas" kurz darauf. Der be¬<lb/>
treffende Fabrikinspector empfand es als einen Mangel seiner Jnstructiousau-<lb/>
weisuug, daß er in solchen Fällen nicht zur Anwendung eines Zwanges sich<lb/>
berechtigt halten konnte.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_396"> Nachdem wir im Vorstehenden die Nachtheile angedeutet haben, welche<lb/>
neben unrichtiger Auffassung der Haftpflicht aus dem Verhalten den Sicher¬<lb/>
heitsmaßregeln gegenüber seitens des Arbeitgebers wie des Arbeiters entstehen,<lb/>
wollen wir nun einzelne Mängel des Haftpflichtgesetzes selbst hervorheben.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_397" next="#ID_398"> Die Haftpflicht hat am Rheine seit mehr als sechzig Jahren in weit grö¬<lb/>
ßerem Umfange bestanden, als sie das deutsche Gesetz vom 7. Juni 1871 fest¬<lb/>
setzt. Das französische Gesetz verpflichtet nämlich in der weitestgehenden Weise<lb/>
jeden zum Ersatz des vollen durch schuldhafte Handlungen oder Unterlassungen<lb/>
verursachten Schadens. Es ist vorgekommen, daß während der Arbeitszeit ein<lb/>
Junge im Streit oder aus Muthwillen einem anderen mit einem Steinwurf<lb/>
das Auge beschädigte. Der Unternehmer wurde haftbar erklärt, weil bei ge¬<lb/>
nügender Aufsicht die Jungen sich uicht mit Steinen werfen durften und konnten.<lb/>
Immer freilich muß irgend ein Verschulden des Unternehmers direct oder con¬<lb/>
currierend bewiesen werden. Das französische Gesetz ging also bedeutend weiter<lb/>
als das deutsche. Das letztere ist aber auch allgemeiner und überläßt es dem<lb/>
freien Ermessen des Richters über Dinge zu urtheilen und Verhältnisse abzu¬<lb/>
wägen, welche in ihrer concreten Specialisieruug vou ihm uicht übersehen werden<lb/>
können. Selbst unser neues deutsches Gesetz ist für die ungeheuere Mannla,-<lb/>
sättigten der Fälle, welche durch die complicierte Entwicklung unserer Industrie<lb/>
geschaffen worden find, zu allgemein und muthet dem Richter zuviel zu. Die<lb/>
Verschiedenartigkeit, ja die oft vollständig entgegengesetzten Verhältnisse der ein¬<lb/>
zelnen Industriezweige, zu welchen auch die Landwirthschaft und das Baugewerbe<lb/>
mit ihren Maschinen gerechnet werden müssen, erschweren die Auslegung des<lb/>
Gesetzes ungemein. Das Verunglücken eines Bergmanns läßt sich nicht mit<lb/>
dem eines Spinners oder Webers, dieses nicht mit dem eines Hüttenarbeiters,<lb/>
eines Müllers, eines Handlangers ?c. vergleichen. Ganz anders liegen die Ver¬<lb/>
hältnisse wieder bei den Arbeitern in Steinbrüchen, chemischen Fabriken und<lb/>
Transportanstalten. Trotz aller Aufklärung und Auseinandersetzung ist ein Ge¬<lb/>
richt ohne specielle technische Beisitzer nicht in der Lage, einen Specialfall aus¬<lb/>
reichend würdigen zu können. Dies gilt um so mehr, als das Haftpflichtgesetz</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0142] sprvchen, manchmal aber hielt es schwer, die Betheiligten von der Zweckmäßig¬ keit oder Nothwendigkeit des Vorgeschlagenen zu überzeugen. Sehr oft waren es sogar gerade die „praktischen Leute", welche in dieser Hinsicht! Opposition machten und zuweilen selbst Arbeiter dagegen ins Feld führten mit dem stets sich wieder¬ holenden Beweismittel, „daß ihnen in ihrer langen Dienstzeit noch nichts passiert sei". In einzelnen Fällen dieser Art „passierte etwas" kurz darauf. Der be¬ treffende Fabrikinspector empfand es als einen Mangel seiner Jnstructiousau- weisuug, daß er in solchen Fällen nicht zur Anwendung eines Zwanges sich berechtigt halten konnte. Nachdem wir im Vorstehenden die Nachtheile angedeutet haben, welche neben unrichtiger Auffassung der Haftpflicht aus dem Verhalten den Sicher¬ heitsmaßregeln gegenüber seitens des Arbeitgebers wie des Arbeiters entstehen, wollen wir nun einzelne Mängel des Haftpflichtgesetzes selbst hervorheben. Die Haftpflicht hat am Rheine seit mehr als sechzig Jahren in weit grö¬ ßerem Umfange bestanden, als sie das deutsche Gesetz vom 7. Juni 1871 fest¬ setzt. Das französische Gesetz verpflichtet nämlich in der weitestgehenden Weise jeden zum Ersatz des vollen durch schuldhafte Handlungen oder Unterlassungen verursachten Schadens. Es ist vorgekommen, daß während der Arbeitszeit ein Junge im Streit oder aus Muthwillen einem anderen mit einem Steinwurf das Auge beschädigte. Der Unternehmer wurde haftbar erklärt, weil bei ge¬ nügender Aufsicht die Jungen sich uicht mit Steinen werfen durften und konnten. Immer freilich muß irgend ein Verschulden des Unternehmers direct oder con¬ currierend bewiesen werden. Das französische Gesetz ging also bedeutend weiter als das deutsche. Das letztere ist aber auch allgemeiner und überläßt es dem freien Ermessen des Richters über Dinge zu urtheilen und Verhältnisse abzu¬ wägen, welche in ihrer concreten Specialisieruug vou ihm uicht übersehen werden können. Selbst unser neues deutsches Gesetz ist für die ungeheuere Mannla,- sättigten der Fälle, welche durch die complicierte Entwicklung unserer Industrie geschaffen worden find, zu allgemein und muthet dem Richter zuviel zu. Die Verschiedenartigkeit, ja die oft vollständig entgegengesetzten Verhältnisse der ein¬ zelnen Industriezweige, zu welchen auch die Landwirthschaft und das Baugewerbe mit ihren Maschinen gerechnet werden müssen, erschweren die Auslegung des Gesetzes ungemein. Das Verunglücken eines Bergmanns läßt sich nicht mit dem eines Spinners oder Webers, dieses nicht mit dem eines Hüttenarbeiters, eines Müllers, eines Handlangers ?c. vergleichen. Ganz anders liegen die Ver¬ hältnisse wieder bei den Arbeitern in Steinbrüchen, chemischen Fabriken und Transportanstalten. Trotz aller Aufklärung und Auseinandersetzung ist ein Ge¬ richt ohne specielle technische Beisitzer nicht in der Lage, einen Specialfall aus¬ reichend würdigen zu können. Dies gilt um so mehr, als das Haftpflichtgesetz

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157695
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157695/142
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157695/142>, abgerufen am 28.12.2024.