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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Drittes Quartal.

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irdischen Glücks werden könne, von welchem, wenn auch nicht Krankheit, so
doch Noth und Armuth ausgeschlossen wären, ist ein Gedanke, der ebenso grund¬
los wie gefährlich ist. Der Gegensatz von Reichthum und Armuth soll immer
mehr durch die Gerechtigkeit, die dem Arbeiter den billigen Lohn gewährt, durch
die Barmherzigkeit, die des Bedürftigen und Leidenden sich annimmt, durch die
Demuth endlich, die hoffend duldet, die Spitze und Schärfe genommen werden,
er selbst aber wird nie schwinden, so lange die Erde besteht.

Ist nun die Thatsache unbestreitbar, daß unsere Cultur auf dem Christen¬
thum ruht, mit ihm steht und fällt, so fragt sichs, ob auch der Katholizismus
sich als Basis der Cultur oder doch mit ihr vereinbar betrachten dürfe. Ma-
riano bejaht den Culturwerth des Katholicismus, insofern es sich um Völker
und Individuen handelt, die auf einer niederen Culturstufe stehen, erkennt also
bereitwillig die große pädagogische Aufgabe an, welche dem Katholicismus im
Mittelalter gestellt war, und die großen Verdienste, die er sich in der Lösung
dieser Aufgabe erworben hat; aber auf der anderen Seite behauptet er mit aller
Entschiedenheit, daß derselbe mit der gegenwärtigen Cultur in einem unversöhn¬
lichen Widerspruch stehe. Wir können ihm darin nur beistimmen. Die Prin¬
cipien unsrer Cultur sind evangelisch-protestantisch, nicht katholisch. Die Freiheit
der individuellen Persönlichkeit, auf die unsere gegenwärtige Cultur sich gründet,
ist von der Reformation auf religiös-sittlichem Gebiete zuerst behauptet und ver¬
treten worden. Die Thesis des Protestantismus, daß das Heilsleben des In¬
dividuums durch keine Intervention der Kirche bewirkt, daß die Gewißheit der
Wahrheit des Evangeliums in endgiltiger Entscheidung nicht von der hierarchischen
Organisation der Kirche verbürgt werde, daß vielmehr jenes ausschließlich durch
eine religiös-sittliche That der individuellen Persönlichkeit entstehe, in der auch
diese enthalten sei, in dieser Thesis der Reformation ist das Princip der mo¬
dernen Cultur ausgesprochen. Wenn einmal die Freiheit der individuellen Per¬
sönlichkeit innerhalb der religiös-sittlichen Sphäre behauptet und anerkannt
ist, wer hat dann die Macht und das Recht, ihre Bethätigung innerhalb der
äußeren Daseinssphäre zu verneinen! Es wäre aber eine ebenso große wie
höchst gefährliche Einseitigkeit, wenn wir in dieser Befreiung der individuellen
Persönlichkeit den ausschließlichen Inhalt des Protestantismus zu erkennen
meinten. Es läßt sich nicht absehen, wie von hier ausweine Kirche entstehen und
unter dieser Voraussetzung bestehen könnte. Denn die persönliche Freiheit isolirt,
aber bindet und vereinigt nicht. Das kirchestistende Princip muß immer ein
socialer Factor sein. Freilich darf dasselbe nicht neben dem Begriff der Frei¬
heit hergehen, es muß mit ihm zur Einheit sich? zusammenschließen. Auf eine
Ergänzung weist nun auch offenbar die Idee der persönlichen Freiheit hin.
Denn diese ist ja an sich leer, etwas rein formelles und insofern werthloses;


irdischen Glücks werden könne, von welchem, wenn auch nicht Krankheit, so
doch Noth und Armuth ausgeschlossen wären, ist ein Gedanke, der ebenso grund¬
los wie gefährlich ist. Der Gegensatz von Reichthum und Armuth soll immer
mehr durch die Gerechtigkeit, die dem Arbeiter den billigen Lohn gewährt, durch
die Barmherzigkeit, die des Bedürftigen und Leidenden sich annimmt, durch die
Demuth endlich, die hoffend duldet, die Spitze und Schärfe genommen werden,
er selbst aber wird nie schwinden, so lange die Erde besteht.

Ist nun die Thatsache unbestreitbar, daß unsere Cultur auf dem Christen¬
thum ruht, mit ihm steht und fällt, so fragt sichs, ob auch der Katholizismus
sich als Basis der Cultur oder doch mit ihr vereinbar betrachten dürfe. Ma-
riano bejaht den Culturwerth des Katholicismus, insofern es sich um Völker
und Individuen handelt, die auf einer niederen Culturstufe stehen, erkennt also
bereitwillig die große pädagogische Aufgabe an, welche dem Katholicismus im
Mittelalter gestellt war, und die großen Verdienste, die er sich in der Lösung
dieser Aufgabe erworben hat; aber auf der anderen Seite behauptet er mit aller
Entschiedenheit, daß derselbe mit der gegenwärtigen Cultur in einem unversöhn¬
lichen Widerspruch stehe. Wir können ihm darin nur beistimmen. Die Prin¬
cipien unsrer Cultur sind evangelisch-protestantisch, nicht katholisch. Die Freiheit
der individuellen Persönlichkeit, auf die unsere gegenwärtige Cultur sich gründet,
ist von der Reformation auf religiös-sittlichem Gebiete zuerst behauptet und ver¬
treten worden. Die Thesis des Protestantismus, daß das Heilsleben des In¬
dividuums durch keine Intervention der Kirche bewirkt, daß die Gewißheit der
Wahrheit des Evangeliums in endgiltiger Entscheidung nicht von der hierarchischen
Organisation der Kirche verbürgt werde, daß vielmehr jenes ausschließlich durch
eine religiös-sittliche That der individuellen Persönlichkeit entstehe, in der auch
diese enthalten sei, in dieser Thesis der Reformation ist das Princip der mo¬
dernen Cultur ausgesprochen. Wenn einmal die Freiheit der individuellen Per¬
sönlichkeit innerhalb der religiös-sittlichen Sphäre behauptet und anerkannt
ist, wer hat dann die Macht und das Recht, ihre Bethätigung innerhalb der
äußeren Daseinssphäre zu verneinen! Es wäre aber eine ebenso große wie
höchst gefährliche Einseitigkeit, wenn wir in dieser Befreiung der individuellen
Persönlichkeit den ausschließlichen Inhalt des Protestantismus zu erkennen
meinten. Es läßt sich nicht absehen, wie von hier ausweine Kirche entstehen und
unter dieser Voraussetzung bestehen könnte. Denn die persönliche Freiheit isolirt,
aber bindet und vereinigt nicht. Das kirchestistende Princip muß immer ein
socialer Factor sein. Freilich darf dasselbe nicht neben dem Begriff der Frei¬
heit hergehen, es muß mit ihm zur Einheit sich? zusammenschließen. Auf eine
Ergänzung weist nun auch offenbar die Idee der persönlichen Freiheit hin.
Denn diese ist ja an sich leer, etwas rein formelles und insofern werthloses;


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[0521] irdischen Glücks werden könne, von welchem, wenn auch nicht Krankheit, so doch Noth und Armuth ausgeschlossen wären, ist ein Gedanke, der ebenso grund¬ los wie gefährlich ist. Der Gegensatz von Reichthum und Armuth soll immer mehr durch die Gerechtigkeit, die dem Arbeiter den billigen Lohn gewährt, durch die Barmherzigkeit, die des Bedürftigen und Leidenden sich annimmt, durch die Demuth endlich, die hoffend duldet, die Spitze und Schärfe genommen werden, er selbst aber wird nie schwinden, so lange die Erde besteht. Ist nun die Thatsache unbestreitbar, daß unsere Cultur auf dem Christen¬ thum ruht, mit ihm steht und fällt, so fragt sichs, ob auch der Katholizismus sich als Basis der Cultur oder doch mit ihr vereinbar betrachten dürfe. Ma- riano bejaht den Culturwerth des Katholicismus, insofern es sich um Völker und Individuen handelt, die auf einer niederen Culturstufe stehen, erkennt also bereitwillig die große pädagogische Aufgabe an, welche dem Katholicismus im Mittelalter gestellt war, und die großen Verdienste, die er sich in der Lösung dieser Aufgabe erworben hat; aber auf der anderen Seite behauptet er mit aller Entschiedenheit, daß derselbe mit der gegenwärtigen Cultur in einem unversöhn¬ lichen Widerspruch stehe. Wir können ihm darin nur beistimmen. Die Prin¬ cipien unsrer Cultur sind evangelisch-protestantisch, nicht katholisch. Die Freiheit der individuellen Persönlichkeit, auf die unsere gegenwärtige Cultur sich gründet, ist von der Reformation auf religiös-sittlichem Gebiete zuerst behauptet und ver¬ treten worden. Die Thesis des Protestantismus, daß das Heilsleben des In¬ dividuums durch keine Intervention der Kirche bewirkt, daß die Gewißheit der Wahrheit des Evangeliums in endgiltiger Entscheidung nicht von der hierarchischen Organisation der Kirche verbürgt werde, daß vielmehr jenes ausschließlich durch eine religiös-sittliche That der individuellen Persönlichkeit entstehe, in der auch diese enthalten sei, in dieser Thesis der Reformation ist das Princip der mo¬ dernen Cultur ausgesprochen. Wenn einmal die Freiheit der individuellen Per¬ sönlichkeit innerhalb der religiös-sittlichen Sphäre behauptet und anerkannt ist, wer hat dann die Macht und das Recht, ihre Bethätigung innerhalb der äußeren Daseinssphäre zu verneinen! Es wäre aber eine ebenso große wie höchst gefährliche Einseitigkeit, wenn wir in dieser Befreiung der individuellen Persönlichkeit den ausschließlichen Inhalt des Protestantismus zu erkennen meinten. Es läßt sich nicht absehen, wie von hier ausweine Kirche entstehen und unter dieser Voraussetzung bestehen könnte. Denn die persönliche Freiheit isolirt, aber bindet und vereinigt nicht. Das kirchestistende Princip muß immer ein socialer Factor sein. Freilich darf dasselbe nicht neben dem Begriff der Frei¬ heit hergehen, es muß mit ihm zur Einheit sich? zusammenschließen. Auf eine Ergänzung weist nun auch offenbar die Idee der persönlichen Freiheit hin. Denn diese ist ja an sich leer, etwas rein formelles und insofern werthloses;

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157693/521>, abgerufen am 23.07.2024.